Die Vorstellung fand also heute Abend in London statt und wir haben sie zur selben Zeit in Stratford im Kino gesehen. In der Zeit, wo die Opernbesucher so langsam Platz nehmen und vielleicht im Programm lesen, haben wir eine Einführung bekommen mit zwei keinen Hintergrundfilmen über die Inszenierung. Durchs Programm geführt hat Richard E. Grant, ein großartiger englischer Schauspieler (nicht, aber auch gar nicht zu verwechseln mit Hugh Grant!). Und dann ging es los: Vorhang auf. | Stratford-upon-Avon - in dem Fachwerkhaus links ist Shakespeare zur Schule gegangen. |
Ansonsten habe ich heute Morgen Einblicke in anglikanische Kirchenpolitik bekommen. Es ist ja auch in Deutschland gemeldet worden, dass die erste Bischöfin in der Church of England eingesegnet wurde. Ein großes Ding hier. Denn Frauenordination ist keineswegs unumstritten. Hier werden die Diskussionen geführt, die wir in den 50er und 60er Jahren hatten. Angela, eine junge Frau, erzählt von der Gemeinde, in der sie aufgewachsen ist. Da gab es neben ein paar Pfarrern auch eine Pastorin. Wenn die das Abendmahl leitete, habe regelmäßig ein nicht unbedeutender Teil der Gemeinde die Kirche verlassen. Und hätten auch noch gesagt, sie hätten nichts gegen die Frau, sie sei nett. Aber eine Pfarrerin sei das nicht und deshalb sei das Abendmahl aus ihren Händen keins. Kaum zu fassen. Das muss in den 90er Jahren gewesen sein.
Im Seminar sind dann Gäste da, die im Pfarramt sind und aus dem Alltag erzählen. Eine Erzählung, von Mark, finde ich interessant. Er ist Jahrgang 1960, anglikanischer Pfarrer und Mitglied der Kirchenleitung in Birmingham. Er sagt, dass er sich bewusst geworden ist, was für Veränderungen gerade seine Generation erlebt hat – und mit welchem Erbe sie belastet sei. Seine Großväter hätten beide im 1. Weltkrieg gekämpft. Sein Vater im 2. Weltkrieg. Das hieße, die Vorgeschichte seiner eigenen Biographie sei eine Geschichte militärischer Gewalt. Und zwar unreflektierter Gewalt. Sie kamen als die strahlenden Sieger wieder, basta. Was sie wirklich erlebt haben, durfte nicht erzählt werden. Und so hätte es eine unschöne Mischung gegeben von „Triumphalismus und verdecktem Trauma“, die nicht selten zu Gewalt, Alkoholismus und Depression geführt hätte. Das gibt es ja bei uns auch – nur ohne den Triumphalismus. Stattdessen Schuldgefühle. Ich denke an meinen eigenen Großvater (Paul!), der so schwer gestorben ist. Ich bin mir sicher, das hatte zu tun mit dem, was er im Krieg – nicht nur erlebt und gesehen, sondern auch anderen angetan hat.
Tja, und dann war wie jeden Donnerstag Paul, der Apostel, an der Reihe. St.-Paul’s Day. David sagt den schönen Satz, dass, wenn man Paulus noch mal ganz von vorne liest, ohne die dogmatischen Vorgaben vor allem von lutherischer Seite, dann würden „alle Sicherheiten zerstört.“ Das ist nach meinem Geschmack – jedenfalls, wenn es sich um festgefahrene Sicherheiten handelt, wo jeder immer schon weiß, wie alles immer schon gewesen ist. Mir fällt auf, die Dozenten laden sich manchmal gegenseitig in ihre Seminare ein. Und zwar nicht nur dann, wenn ein anderer zu einer bestimmten Sache von seinem Fachgebiet her mehr sagen kann, sondern auch gerade dann, wenn der andere eine andere Meinung hat, die es auch zu hören gilt. David fordert uns ausdrücklich auf, die Bücher zu lesen, die seiner, Davids, Meinung wiedersprechen. Letzteres hätten meine Professoren nicht getan. Ich hab mal auf eine Seminararbeit eine schlechtere Note bekommen, nur weil ich die „falschen“ Bücher zur Kenntnis genommen habe. Was David zu sagen hat, verunsichert tatsächlich einige meiner Mitstudenten sehr, vor allem, wenn sie aus der evangelikalen Ecke kommen. Und dann fangen sie an, nachzudenken. Wobei die Frage ist, wie lange das anhält. Mir kommt der Satz von Professor Klaus-Peter Hertzsch in den Sinn (dem ging es immer um Anleitung zum kritischen Selber-Denken): „Man kann sie im Studium bleichen wie man will, im Amt schwärzen sie wieder nach.“
In meiner Freizeit, also wenn ich zum Beispiel im Café sitze, dann lese ich noch was ganz anderes: Ein Buch, von einem amerikanischen Paläontologen (Neil Shubin) geschrieben. Es heißt „The Universe Within“. (Schwer zu übersetzen. Vielleicht: Das Innere Universum. Oder: Das Universum in uns.) Das habe ich in meiner ersten Woche im Shop des Planetariums von Greenwich gekauft. Es geht darum, dass und wie wir kleinen Menschlein und das unvorstellbar große Universum zusammengehören. Zum Beispiel schreibt er: „Die grundlegenden Atome, aus denen unsere Hände, Füße und Gehirne bestehen, dienen Sternen als Brennstoff.“ Also jedes einzelne Atom ist einmal vor Milliarden von Jahren irgendwo im Universum entstanden, bis es Eingang in unseren Körper gefunden hat. Und eines Tages sind wir nicht mehr und ist die Sonne nicht mehr und die Erde nicht – und dieselben (nicht die gleichen, sondern exakt dieselben) Atome werden Teil anderer Sterne werden: „Jede Galaxie, jeder Stern, jede Person ist vorübergehend Eigentümer von Teilchen, die durch die Geburt und den Tod von Gebilden über enorme Ausdehnungen von Zeit und Raum hindurchgegangen sind.“ Benny von der Olsenbande würde sagen: „Mächtig gewaltig“. Neil Shubin zitiert Archie Bunker, eine amerikanischen Serienfigur: „Bier – wir besitzen es nicht, wir mieten es nur.“ (Weil es früher oder später, oben oder unten, wieder rauskommt.)
Manchmal werde ich hier gefragt, ob ich für mein „Sabbatical“ ein Forschungsthema hätte. Ich muss immer sagen, nein, eigentlich nicht, nicht wirklich. Und hab mich bisher immer nicht so gut dabei gefühlt. Mir kommt alles so „erratic“ (sprunghaft, ziellos) vor, was ich so mache. Heute beim Abendessen im Pub in Stratford hab einen Beschluss gefasst, was ich hier tue: Ich mache eine intuitive Reise. Ich nehme auf, was mir begegnet und nehme mit, was ich mitnehmen kann. Und am Ende wird sich ein Sinn ergeben. Ja, das ist ein guter Plan. (Helen würde das gefallen.)
Übrigens: Die Callas-Arie mit Tom Hanks gibt es als YouTube-Clip (YouTube > La mamma morta Philadelphia) zum Nachhören.