Es ist ein „viktorianischer“ Kirchenbau, wir würden den Stil neogotisch nennen. Roter Sandstein im gotischen Stil, aber 1873 gebaut. Zum ersten Mal in einer anglikanischen Kirche bekomme ich keinen Gottesdienst-Ablauf in die Hand und kein Gesangbuch. Stattdessen sind an den Pfeilern Monitore, wie im Flugzeug. Da wird alles angezeigt, was man für den Gottesdienst braucht, Liedtexte, gemeinsam gesprochene Gebete. (Zu Hause machen wir das mit einem Beamer; ich weiß nicht zu entscheiden, was schicker ist.) |
Es geht sehr zwanglos zu – also ohne Pomp und ohne Circumstance. Aber die Liturgie ist erkennbar anglikanisch, das ist angenehm. Manchmal geraten solche „modernen“ Gottesdienste zur Nummern-Revue. Und das kann das Fernsehen dann meistens besser; da sollten wir die Finger von lassen.
Die Geschichte von der Verklärung aus Markus 9 wird gelesen. Jesus und drei Jünger steigen auf einen Berg und Jesus verwandelt sich vor den Augen der Jünger. Sie sehen ihn in gleißend weißem Licht – bevor der Moment auch schon wieder vorüber ist und er der Mensch ist, als den sie ihn kennen.
Dann kommt die Predigt (gehalten vom Leitenden Pfarrer – dem „Reverend Canon“. Er heißt Stewart, und ist dem Akzent nach ein Schotte). Die Predigt geht so: Egal, wer Sie sind, woher Sie sind, wie sie drauf sind, ob wach oder müde, fröhlich oder traurig, erschrocken oder zuversichtlich – Sie sind willkommen. Sie müssen nicht irgendwie sein, um dazugehören zu dürfen. Denn die Jünger waren nicht anders. Die haben manchmal nichts begriffen, die waren manchmal müde, die waren manchmal erschrocken. Aber sie sind Jesus begegnet. Und so begegnen auch wir Jesus. Wir sind mit Jesus auf dem Weg. Wir gehen mit Jesus. Was das bedeutet in unserem Leben? Dass wir am Mittwoch den Film „Les Miserables“ sehen werden. Mittwoch ist Aschermittwoch. Da wird es einen Gottesdienst geben und anschließend einen Filmabend in St Martin in the Bullring. (Und dann in beschwörendem Ton:) Sind Sie bereit, mitzukommen auf dem Weg mit Jesus? – Und geht (ohne Amen) von der Kanzel. Und es kommt – auf den Monitoren – der Trailer für den Film „Les Miserables“. Ich bin einfach nur baff.
Nach dem Trailer kommt der Prediger dann doch noch einmal auf die Kanzel und spricht ein Gebet. Darin heißt es: „Herr, wir haben einen Traum…“ Dramatische Pause. Ich denke, jetzt kommt es. In der Predigt hat er gesagt, dass er gestern den Film „Selma“ über Martin Luther King gesehen hat. (Naja, er hat vor allem gesagt, dass er den Film „50 Shades of Grey“ nicht gesehen hat.) „Herr, wir haben einen Traum ----- dass deine Liebe niemals endet.“ Häh? Das ist doch kein Traum. Davon gehe ich aus. Insgesamt kam ich mir vor, als wäre ich in einem angenehmen Haus bei freundlichen Menschen an einen schön gedeckten Tisch eingeladen. Und der Gastgeber kündigt an, dass das Essen jetzt serviert wird. Und verteilt fröhlich lächelnd an jeden eine Tüte Erdnüsse. |
Ich war danach im Café in der Buchhandlung Waterstone. Da war eine Tafel, an die war mit Kreide ein Zitat von Arthur Conan Doyle aus seinem „Sherlock Holmes“ geschrieben. Ich hab’s abgeschrieben: „Das Leben ist unendlich mehr als der menschliche Geist planen könnte. Wir würden es nicht wagen, uns die Dinge einfallen zu lassen, die im wirklichen Leben gerade mal eben der Normalfall sind. Wenn wir Hand in Hand aus diesem Zimmer fliegen, über dieser großen Stadt schweben, sanft die Dächer abnehmen und heimlich all die schrägen Dinge beobachten könnten, die sich da abspielen! Die seltsamen Zufälle, die Pläne und Projekte, die Widersprüche, die wundervollen Ereignisketten, die sich über Generationen hinziehen und zu den überspanntesten Ergebnissen führen – es würde alle erfundenen Geschichten mit ihrer Gewöhnlichkeit und den vorhersehbaren Ausgängen höchst schal und unersprießlich machen.“ | Life is infinitely more than anything which the mind of men could intend. We would not dare to conceive the things which are rarely mere commonplaces of existence. If we could fly out of that window hand in hand, hover over this great city, gently remove the roofs, and peep in at the queer things which are going on, the strange coincidences, the plannings, the cross-purposes, the wonderful chains of events, working through generations and leading to the most outré results it would make all fiction with its conventionalities and foreseen conclusions most stale and unprofitable. |
Auf dem Bullring kann man dann ein paar Illustrationen dazu bekommen. Es ist normaler Shopping-Sonntag. Was wird dort nicht alles verkauft! Und nicht nur Waren aller Art. Gleich zwei Krankheiten sollen bekämpft werden. In großen Lettern steht das Wort CANCER auf dem Platz. Das heißt KREBS. Und die Passanten sind aufgefordert, Kreuze darauf zu kleben – Kreuze wie in „durchkreuzen“. |
Die Organisation „Cancer Research UK“ ist etwas Ähnliches wie die Deutsche Krebshilfe e.V. (1974 von Mildred Scheel gegründet). Sie will Geld sammeln und aber auch ein öffentliches Bewusstsein für die Krankheit schaffen, damit Menschen mit Krebs nicht aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden. Und Menschen in Tierkostümen werben für Spenden für die Meningitis-Forschung (Hirnhautentzündung). Wie gesagt, all das gibt es bei uns auch. Mir fällt aber auf, dass solche Organisationen in Großbritannien viel mehr öffentlich präsent sind. Keine High Street ohne mindestens einen Laden, in dem Trödel zugunsten einer Wohltätigkeits-Organisation verkauft wird. |
Und auch Religion wird an den Mann und die Frau gebracht. Ein bärtiger Mensch steht an einem Tisch mit hübschem Regenbogen-Motiv. Über einen Lautsprecher hört man Suren aus dem Koran – arabisch gesungen, zwischendurch immer wieder auf Englisch gesprochen. Er verteilt Flugblätter und Koran-Exemplare. |
Und vor H&M, wo das letzte Mal der Mann stand, der aus der Johannes-Offenbarung gelesen hat, steht dieses Mal ein Prediger. Bibel in der Hand. Seine Predigt… Na dann doch lieber „Les Miserables“, das ist nämlich ein richtig guter Film! Er behauptet: Jesus war gegen die Juden. (Häh?) Und hat er gegen die Juden eine neue Religion gebracht? Nein! Er hat die Wahrheit gebracht. Die Wahrheit ist keine Religion. Die Wahrheit ist die Wahrheit. |
In London habe ich sie zum ersten Mal gesehen, hier am Bullring habe ich erfahren, wie sie heißen. Selfie-Sticks. Wenn man ein „Selfie“, also ein Bild von sich selbst machen will… („Ich und der Eifelturm.“ „Ich und der Tower.“ „Ich und der Uniturm.“) …dann stellt man schnell fest, dass die eigene Armlänge zu kurz ist. Man kriegt vielleicht sich selbst ins Bild, aber nicht die Löwen vom Trafalgar Square oder die Pyramide im Louvre oder den Hanfried auf dem Jenaer Markt. Dagegen gibt es jetzt Abhilfe: Den Selfie-Stick. |
Ich hab keinen Selfie-Stick für £10 gekauft.