Treffen im „Church House“ mit Andrew. Church House heißt das Gemeindehaus direkt neben der Kirche. Tudor-Architektur, also Fachwerkbau, verwinkelt und manchmal schief und schräg. Das Haus müsste ein paar Jährchen älter sein als unsere Superintendentur auf dem Markt. Drinnen Gemeindebüro, ein Gemeinderaum, Teeküche, Stauraum für alles Mögliche… Die Gemeinde hat eine sehr kompetente Sekretärin, die die Fäden zusammen hält. Auch wie in Eisenberg – auch wenn es bei uns ein Sekretär ist. |
Einmal werde ich in St. Egwin in Norton predigen, einem Nachbardorf, für das Andrew zuständig ist. Die Kirche habe ich heute schon einmal zu sehen bekommen. Wunderschöne, süße Kirche – aber es ist absehbar, wann diese Gemeinde nicht mehr existiert. Der Deal ist: Mit dem Staat aushandeln, dass er wenigstens dafür sorgt, dass das Dach dicht ist. Dafür liefert die Kirche drei, vier Mal im Jahr einen Höhepunkt – meist landwirtschaftliche Feste. |
Auf die Art bleibt die Kirche bestehen, auch wenn es keine Gemeinde mehr gibt, die sie unterhalten kann. Das wäre jedenfalls die Zukunft, die Andrew sich vorstellen kann. Noch gibt es aber jeden Sonntag Gottesdienst – den aber meistens nicht Andrew hält, sondern Andy, ehrenamtlicher Pfarrer, derzeit noch in Queen’s zur Ausbildung. Dort habe ich ihn auch schon kennen gelernt. | Die Kreuze mit den Mohnblumen erinnern an die Toten des 1. Weltkrieges. Hier sind sie seit dem Gedenken im November sichtlich schon verblasst. |
Der Gottesdienst-Raum der Quäker war umgebaut für einen Filmvortrag, also mit Stuhlreihen. Normalerweise stehen da Bänke im Quadrat, wo man sonntags im Schweigen auf Gott hört – das ist Gottesdienst bei Quäkern. Heute wurde geredet – und zwar über Gesundheitspolitik. Etwa 30 Leute waren gekommen, nicht schlecht für eine Veranstaltung Nachmittag um halb drei. Auch der lokale Kandidat der Grünen war da – es ist Wahlkampf hier in Großbritannien. Im Mai wird ein neues Parlament gewählt. In dem weißen Haus hat die "Gesellschaft der Freunde" (Society of Friends), wie die Quäker sich selber nennen, ihren Sitz. |
Dann wurde es – angefangen bei Margaret Thatcher – ausgehöhlt. Es fing damit an, dass man ein System einführte, das man „interne Marktwirtschaft“ nannte, habe ich gelernt. Thatcher hatte die Ideologie, dass der Mensch nur vom Geiz getrieben aus dem Knick kommt. Also muss man auf dem Markt alle aufeinander loslassen wie die Löwen in der Arena, Konkurrenzkampf anfachen – dann regelt sich das alles schön alleine und das Land blüht auf. Für das angestammte System des Gesundheitswesens erklärt ein Arzt sehr anschaulich, was „Interne Marktwirtschaft“ bedeutete: „Stellen Sie sich eine Familie vor. Bisher hat jeder seine Aufgaben schön erledigt, Es gab immer mal Rangeleien, aber das hat sich geregelt. Jetzt kommt man plötzlich auf die Idee, die gegenseitigen Dienstleistungen gegeneinander aufzurechnen. Der Vater stellt der Familie in Rechnung, wenn er den Rasen mäht. Die Kinder schreiben eine Rechnung, wenn sie sich gut benehmen. Die Mutter berechnet Essen kochen und so weiter und so fort.“ Das Problem: Es muss jemanden geben, der feststellt, wer wem was schuldig ist, der die Rechnungen schreibt und sie verbucht, wenn sie bezahlt werden. Kam der NHS einmal mit 5% Verwaltungskosten aus, sind es mittlerweile 15 %, Tendenz steigend. Geld, das den Patienten fehlt.
Ich hab nicht alles im Detail mitbekommen, weil ich das System nicht so gut kenne. So viel ich verstanden habe, ist man aber im Kern auf die Idee gekommen, dass sich mit Krankheit Geld machen lassen könnte. Und diese Entwicklung kann man nicht mehr Thatcher in die Schuhe schieben. Das war Labour, die das zugelassen und mitgemacht haben. Kliniken wurden nicht mehr einfach aus Steuermitteln gebaut. Sondern Investoren stellen das Geld zur Verfügung – und wollen dann, wenn die Klinik läuft, Geld raus haben aus dem Betrieb. Das heißt, die Klinik wird für, sagen wir 500 Millionen, gebaut – und hat dann ein Vielfaches an Schulden, weil Investoren natürlich Profit erwarten. Das ist dann alles Geld, das nicht in die Patienten fließt. Und irgendjemand verdient daran…
Dass auch in Deutschland ähnliche Dinge ablaufen müssen, auch wenn unser System anders ist, wurde mir deutlich, als vom „Outsourcing“ die Rede war. Wir haben daraus sogar ein eigenes deutsches Wort gemacht. „Outsourcen“ heißt, Mitarbeiter entlassen, sie in einem privatwirtschaftlichen Betrieb wieder anstellen, wo sie jetzt für 70% ihres früheren Gehaltes 120 % ihrer früheren Arbeit leisten müssen. Und nicht darüber reden dürfen, weil sie sonst gefeuert werden. Und irgendjemand verdient daran…
Sylvia ist jedenfalls so entsetzt, dass sie als Ruheständlerin sehr viel Kraft einsetzt, politisch dagegen aktiv zu werden. Sie hat ihr Leben lang in dem System für ihre Patienten gearbeitet und sieht es jetzt den Bach runter gehen. Sie ist eine sehr sympathische, ruhige Frau, eine, der ich mich als Patientin auch ohne weiteres anvertraut hätte.
Überhaupt, nette Menschen, die Quäker hier. Und wie so oft in ihrer mehr als 350jährigen Geschichte erweisen sie sich als auf der Höhe der Zeit und ihrer Zeit voraus.
Das kann man von dem Prediger des heutigen Abendgebetes nicht sagen. Der sah aus wie aus dem 19. Jahrhundert – mit buschigen Koteletten beinahe bis zu den Mundwinkeln. Und seine Predigt war auch ungefähr so. Andrew sagt: Wenn man der Predigt den Puls gefühlt hätte, hätte man sie für tot erklären müssen.