Jetzt ist es Freitag, 15.37 Uhr. Endlich sind alle Wahlkreise ausgezählt. Die Konservativen haben 331 Sitze; 326 wären nötig für die Mehrheit. Ich habe gestern noch bis nachts um drei weiter geschaut. Da zeichnete sich gerade die schon eher erwartete schottische Sensation ab, dass die SNP abräumt. Und ich war schon beeindruckt, wie die BBC die sich anbahnenden Entwicklungen der Nacht aufnimmt. BBC One, das erste Programm berichtet seit gestern 22.00 Uhr nahezu nonstop. Auch das ist anders als bei uns. Da ist nach der Elephantenrunde dann auch wieder Schluss und man kann noch einen Spätfilm gucken. Das muss man erst mal schaffen, so lange hintereinander zu berichten ohne wirklich langweilig zu werden. Ich stell mir vor, wer da im Hintergrund alles rotiert.
Aber dann ist heute ja nun auch VE Day. Der 8. Mai. Victory in Europe Day. (Es gibt auch noch VJ Day, Sieg-in-Japan-Tag, der ist im August.) Zu VE Day gab es heute einen Gottesdienst in All Saints. Andrew war verhindert, also war ein pensionierter Kollege als Pfarrer dabei. Irgendwie könnte ich nicht sagen, er habe den Gottesdienst geleitet. Zuständig war die Royal British Legion. Sie haben das Geschehen bestimmt. Das ist die Kriegsveteranen-Organisation in Großbritannien. Die kamen an mit Fahnen, Uniformen und angesteckten Orden. Gemeinde war so gut wie keine da. Jugend gar nicht (außer drei Fahnenträger in Uniform). Der erste Teil war in der Kirche, der zweite am Kriegerdenkmal im Park hinter der Kirche. |
Mir bedeutet dieser Tag etwas. Ich bin nur 17 Jahre nach dem Krieg geboren. Die Erzählungen meiner Mutter von der Furcht in Bombennächten und dem Hunger nach dem Krieg sind mir lebendig und haben mich als Kind beeindruckt. In den 80er Jahren noch haben wir in Kirche und Gesellschaft debattiert, was die deutsche Schuld für unsere Generation bedeutet (die gesellschaftliche Debatte fand natürlich im Westen statt, aber innerlich haben wir ja per Westfernsehen immer an deren Debatten teilgenommen). Erst in den 90ern haben wir angefangen, uns selber zu glauben, dass Deutschland sich verändert hat. Vielleicht auch, weil gegen manche ausländische Befürchtung aus einem vereinigten Deutschland nicht wieder das alte „Großdeutschland“ geworden ist. Wir haben das gewusst, dass es nicht so kommt, aber irgendwann haben es uns die anderen auch geglaubt.
Natürlich ist der Tonfall hier sehr anders. Muss anders sein. Aber mir war schon eigentümlich, als der Gottesdienst mit einem deutschen Choral begann. Und dann einen sehr anderen Verlauf nahm. Ich habe im Ohr, was Andrew sagt. 1945 hat Großbritannien einen Krieg gewonnen, aber ein Empire verloren. Das ist nie richtig reflektiert worden. Und ich habe im Ohr, was Mark in Queen’s erzählt hat (am 29. Januar). Die Männer kamen siegreich aus einem Krieg zurück. Da war kein Raum, über die Schrecken und die Angst und das Grauen zu reden und darum zu trauern.
Ich hatte bei der Veranstaltung heute den Eindruck: Hier wird ein altes Ritual reproduziert (das aus dem ersten 1. Weltkrieg stammt, vermute ich) und das Ritual wird dabei von Jahr zu Jahr inhaltsleerer, weil es mehr und mehr die Verbindung zur Gegenwart verliert. Dabei könnte man so viel daraus machen. Es wäre auch wichtig, die Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu schlagen. Man könnte Schulklassen einbeziehen zum Beispiel... |
Das sind die beiden Kränze, die nieder gelegt wurden. Die Blumen sind bei solchen Kränzen aus Papier, Plaste oder Holz. Bei uns würde es ja als eine Geringschätzuung betrachtet werden, wenn man Tote nicht mit lebenden Blumen ehren würde. Das ist hier anders. | Von den Anwesenden war, glaube ich, keiner als Soldat im Krieg. Das waren alles Menschen, die in den Krieg hinein geboren und in den 50ern groß geworden sind. Der Pfarrer hat versucht, ein wenig Menschlichkeit hinein zu bringen. Aber er hatte nicht das Heft in der Hand. Die eigentliche Ansprache hat einer von den Veteranen gehalten (der war mit Sicherheit erst nach dem Krieg in der Armee). Er brach eine Lanze für die Piloten der Luftwaffe, deren aufopferungsvoller Dienst nach dem Krieg nie gewürdigt worden sei. Dabei hätten sie so Wichtiges geleistet. Indem sie Bomben auf deutsche Städte geworfen hätten, hätten sie sich bis in das „Herz“ Deutschlands gewagt und mit ihren Bomben die Moral des Gegners gebrochen. Und das sei nie richtig anerkannt worden, was sie da unter Einsatz ihrs Lebens geleistet hätten. Naja. Sagen wir mal, das hört sich seltsam an, 70 Jahre später. |
Und dann wurde das Programm unterbrochen für die offizielle VE Day-Feier. (Das spricht man übrigens "Wie-Ih-Dej".) Die findet traditionell auf Whitehall statt. Das ist die große Straße zwischen Trafalgar Square und Westminster Bridge. Dort steht ein Kriegerdenkmal. Das war ganz gut, dass ich zur Ergänzung zu Evesham diese Feier noch im Fernsehen gesehen habe. Es waren die gleichen Rituale mit Fahnen und Schnedderedeng (natürlich viel besser durchgestylt). Auch das war im Kern eine militärische Feier, bei der der Pfarrer mitmachen durfte (in dem Fall der Militärbischof Ihrer Majestät). Es ist immer noch VE Day (Victory-Tag) und nicht etwa PE Day (Peace-Tag). Aber es war ein anderer Tonfall.
Ich finde immer, solche Feiern haben eine politische und eine menschliche Seite. Und hier ging es sehr stark um die menschliche. Und das geht vollkommen in Ordnung. Es waren Leute dabei, die damals junge Erwachsene gewesen sind. Eine Frau wurde von der BBC interviewt. Sie hat in Bletchley gearbeitet und geholfen, die deutschen Enigma-Codes zu knacken. Und ein alter Herr durfte einen Kranz niederlegen. Er war Soldat und sagte mit aufrichtiger Bescheidenheit: „Ich weiß auch nicht, warum sie mich ausgesucht haben. Aber ich fühle mich geehrt. Und wenn ich den Kranz niederlege, denke ich an alle meine Freunde, die damals ums Leben gekommen sind.“ Die Feier hatte zum Inhalt, die Leistung dieser Generation zu würdigen.
Dann hat der Urenkel von Winston Churchill Ausschnitte aus der Rede seines Urgroßvaters verlesen, die der am 8. Mai 1948, um im 15.00 Uhr gehalten hat. Der gute alte Winston…
„Wir auf dieser uralten Insel waren die ersten, die das Schwert gegen die Tyrannei erhoben haben. Nach einer Weile standen wir allein der gewaltigsten Militärmacht gegenüber, die man je gesehen hat. Ein ganzes Jahr lang waren wir allein. Da standen wir nun. Wollten wir aufgeben? Waren wir niedergeschlagen? Die Lichter gingen aus und die Bomben fielen. Aber jeder Mann, jede Frau und jedes Kind im Land hatte keinen Gedanken daran, den Kampf aufzugeben. London hat es mit all dem aufgenommen. Und auf einmal waren wir wieder da, nach langen Monaten der Hölle, und die ganze Welt hat sich gewundert.“ | „We were the first, in this ancient island, to draw the sword against tyranny. After a while we were left all alone against the most tremendous military power that has been seen. We were all alone for a whole year. There we stood, alone. Did anyone want to give in? [The crowd shouted "No."] Were we down-hearted? ["No!"] The lights went out and the bombs came down. But every man, woman and child in the country had no thought of quitting the struggle. London can take it. So we came back after long months from the jaws of death, out of the mouth of hell, while all the world wondered.“ |
19 Jahre alt, lebt mit einer Kinderbande in den Trümmern Londons und schlägt sich durch mit Witz und Einfallsreichtum. Als Rose ihr erzählt, dass sie aus der Zukunft kommt und auch Londonerin ist, da ist das Mädchen ganz erschrocken: „Dann bist du also Deutsche?“ Sie denkt wirklich, es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Nazis einmarschieren. Da hat Rose etwas getan, das unter Timelord-Gesetzen gaaanz streng verboten ist; sie hat ihr die Zukunft erzählt: Dass die Deutschen nicht nach London kommen werden. Dass es besser wird. Und das Mädchen will ihr gar nicht glauben, denn es sieht zu ihrer Zeit nach dem Gegenteil aus.
Anwesend waren übrigens die ganzen Politiker, die eben noch die Nacht durchgemacht haben. Insbesondere Cameron hatte nun wirklich einen aufregenden Tag, erst der Wahlsieg, dann die Königin, dann Rede vor Downing Street und schon stand er hier. Friedlich neben ihm die beiden zurückgetretenen Vorsitzenden von Labour und Liberalen, Miliband und Clegg. Und die Vertreter von Schottland, Wales und Nord-Irland. Nicola Sturgeon im schicken schwarzen Hütchen – auch sie eben noch im roten Kostümjäckchen jubilierend über den gewaltigen Erfolg ihrer SNP.
Im Internet interessiere ich mich, was in Deutschland heute los war. Die offizielle Feier fand im Bundestag satt. Natürlich vollkommen zivil. Norbert Lammert sagt wie immer Kluges und Einfühlsames. Er erinnert daran, dass Richard von Weizsäcker vor 30 Jahren Prügel bekommen hat, als er als erster hochrangiger westdeutscher Politiker den 8. Mai „Tag der Befreiung" genannt hat. Und dann erinnert er daran, dass es kein Tag der Selbstbefreiung Deutschlands gewesen ist und dankt allen, die uns von Hitler befreit haben. Und danach redet ein Historiker und ordnet das Geschehen von damals in die Herausforderungen unserer Tage ein. Ja, so machen wir Deutschen das. Vor allem gründlich. Und unsere Kränze sind aus echten Blumen.
1945 war die heutige Königin 19 Jahre alt, ihre Schwester Margaret fast 15. Und es ist eine wahre Geschichte, dass sich die beiden am 8. Mai unerkannt aus Buckingham Palace geschlichen und unters Volk gemischt haben. Denn in London hat man, im Gegensatz zu Berlin, an diesem Tag auf den Straßen getanzt. Ein Film, der heute Pre-Premiere hatte (offiziell läuft er nächste Woche an), erzählt, was die beiden da - angeblich – erlebt haben. (Jetzt ist es 22.16 Uhr. Ich bin seit einer Stunde aus dem Kino zurück.) Der Film heißt „A Royal Night Out“ (frei übersetzt: Eine königliche Partynacht). Natürlich ist das ein Film über den einzigen Tag in Freiheit, den diese Frau hatte, seit ihr Vater König und sie Kronprinzessin geworden ist. Und entsprechend schwer fällt es ihr, nach Buckingham zurück zu kehren (das legt jedenfalls der Film nahe). Vor allem aber ist es ein sehr humorvoller, zum Teil richtig komischer Film mit ein paar nachdenklichen Momenten. | Das Plakat zum Film |
Sie (Queen Mum – gespielt von der großen Emily Watson) will ihn beruhigen und meint, Winston Churchill werde den Laden schon zusammenhalten. Er: „Wenn er wieder gewählt wird.“ (Wurde er nicht. Labour gewann in einem Erdrutschsieg die Wahlen im Juli 1945.) Und dann schaut er aus dem Fenster, wo draußen die Menschen auf dem Platz feiern: „Die haben keine Ahnung, was für eine schwierige Zeit voller Herausforderungen auf sie zukommt. Es wird die Zeit Lilibets sein.“ Krieg gewonnen. Empire verloren.
„Lilibet“ unterdessen trifft einen Soldaten, der so gar nicht in den Jubel einstimmen will. Er will auch mit ihr nichts zu tun haben. Er weiß zwar nicht, wer sie ist. Aber er merkt natürlich, dass sie „posh“ redet und auftritt, als eine aus der Oberschicht. Eine, die mit dem goldenen Löffel im Mund geboren ist. Aber wie es in einem Film dann so geht, freunden sie sich an. Er lernt, dass man es als Prinzessin auch nicht immer so leicht hat. Und dann erzählt er seine Geschichte. Als er als Pilot aus Berlin „vom Menschen umbringen“ zurückkam, sind sie beschossen worden und sein Freund ist neben ihm im Cockpit gestorben. Und als er seinen Vorgesetzten gebeten hat, das erst mal verdauen zu dürfen, hat der ihn erst degradiert und dann sofort wieder mit einem Bomber losgeschickt. Da fällt es ihm schwer, am VE Day die rechten patriotischen Gefühle zu entwickeln.
Ja. Das war mein VE und Election Day. Ach – der Politiker übrigens, der gestern gesagt hat, er werde seinen Hut essen, wenn die Liberalen wirklich so schlecht abschneiden, wie die ersten Hochrechnungen gesagt haben… Das war der Liberale Paddy Ashdown. Seine Partei hatte am Ende noch weniger Sitze als vorausgesagt. Man hat ihm also irgendwann am frühen Morgen einen Hut gegeben. Er hat ihn verschmäht.
Und eine gute Nachricht gibt es. Ukip hat zwar viel zu viele Stimmen erhalten, aber nur einen Sitz im Parlament. Obendrein reden alle über den vollkommen überraschenden Tory-Sieg, das stellt die Ukip-Zahlen in den Schatten. Und das Wichtigste: Der Vorsitzende, Großmaul Nigel Farage hat seinen Wahlkreis (schon wieder) nicht gewonnen. Und die BBC-Kamera hat genüsslich und erbarmungslos auf sein versteinertes Gesicht gehalten, während das Ergebnis verkündet wurde.