Heute früh hab ich also mein Stück über die Gegenwart Christi im Abendmahl, wie Calvin es um 1550 verstanden hat, abgeliefert. Zwei andere haben über Luther und Zwingli gesprochen. Dann sind wir ins Gespräch gekommen über die drei Reformatoren. Und schließlich habe ich meine Frage gestellt: Was das mit uns im 21. Jahrhundert zu tun? Und Judith, die hiesige Kirchengeschichtlerin, die Ashley in sein Seminar zum Thema eingeladen hat, gab die Frage in die Runde zurück. Und als das Gespräch abzuschweifen begann, kam sie noch mal darauf zurück: „Hat das etwas mit uns zu tun? Brauchen wir so etwas im 21. Jahrhundert?“ Das sei wirklich wichtig, dass wir das klar kriegen. Am Ende gab sie ihre Antwort, warum wir das brauchen. Damals habe man sich über den Unterschieden zerstritten und einander vom Abendmahl ausgeschlossen. Heute müsse es darum gehen, einander einzuladen. Es ginge darum, so Abendmahl zu feiern, dass sich möglichst viele Menschen zugehörig fühlen können. Dazu müsse man aber wissen, was es für mögliche Einstellungen und Haltungen unter den Christenmenschen gibt. Und diese haben sich aus den alten Feinheiten und dogmatischen Theorien entwickelt. Die damaligen Streitigkeiten haben Menschen und Kirchen bis heute geprägt. Hätte mir damals das jemand gesagt, ich hätte mich mit Begeisterung in das Seminar gestürzt. Stattdessen habe ich die geforderte Seminararbeit (über „Transsignifikation“ bei Edward Schillebeeckx) vor lauter Frust und innerem Protest eineinhalb Jahre vor mir hergeschoben und erst geschrieben, als wirklich die allerletzte Deadline vorüber war.
Hier in England geht es darum, dass manche Teile der anglikanischen Kirche nicht ertragen, wenn Abendmahl zu sehr beiläugig und im Vorübergehen gefeiert wird. „So, jetzt beten wir mal und dann kriegt mal jeder ein Stück Brot…“ Als würde die Sache extra heruntergespielt, nur um ja nicht katholisch zu erscheinen. (So etwas ähnliches habe ich in Deutschland mal in einer baptistischen Kirche erlebt und fand es selber unangemessen.) Wir kamen darauf, dass man sich als Gastgeber zu Hause nicht so verhalten würde, warum dann als Pfarrer am Altar? Das fand ich als Kriterium ganz schön und hilfreich.
Im zweiten Teil des Seminars ging es um Ashleys Lieblingsthema: Gebet. Darüber hat er seine Doktorarbeit geschrieben. Er hat uns einen Satz von Evagrius Ponticus zum Bedenken gegeben (nie gehört den Namen; ein Theologe aus dem 4. Jahrhundert, wie sich herausstellt): „Wenn du ein Theologe bist, wirst du wahrhaftig beten, und wenn du wahrhaftig betest, wirst du ein Theologe sein.“ Kurz: Alle Theologie ist Gebet. Mit den Jahrhunderten allerdings, so Ashley, habe sich die Theologie vom Gebet gelöst. Und zwar, als Bildung sich von den Klöstern löste. Als schließlich freie Universitäten entstanden. Wie alles hatte das gute und schlechte Seiten. Universitäten, frei von kirchlicher und politischer Beeinflussung entwickelten Wissenschaften, die den Namen verdienen. (Also nicht mehr: „Die Erde darf nicht rund sein, weil nicht sein kann was nicht sein darf“.) Zum anderen aber hat die Theologie versucht, mitzuhalten. Sie hat sich in Fachgebiete aufgeteilt – Altes und Neues Testament, Kirchengeschichte, Systematische Theologie und Praktische Theologie. Und die einen haben mit den anderen nicht mehr viel zu tun. Und „Gebet“ ist als Thema im am wenigsten angesehen Fachgebiet, der Praktischen Theologie, untergekommen, statt alles zu begleiten und zu durchdringen.
Und schließlich war heute Abend noch der Gemeindeabend bei Andrew in Evesham. Dieses Mal hatte er Linda eingeladen, eine hochkarätige Professorin für Soziologie, selber Anglikanerin, die das religiöse Leben und die Kirchen in Großbritannien untersucht. Sie sollte uns einen Überblick geben, wie der Zustand der Kirche in Großbritannien heute ist, besonders natürlich der Church of England. Sie begann damit, dass die Gesellschaft in Großbritannien lange nicht so säkularisiert (verweltlicht) ist, wie man angenommen hatte, dass sie 2015 sein wird. Es hat Untersuchungen gegeben, die etwas vorausgesagt haben, was nicht eingetreten ist. Menschen sind immer noch an Religion interessiert. Ihrer Meinung nach liegt das an fehlenden Alternativen. Der Kapitalismus pur sei einfach nur brutal; der Kommunismus kläglich gescheitert. Vielen Menschen sei Kirche fremd geworden; sie sind aber nicht feindlich eingestellt. Sie hätten Interesse, wenn ihnen jemand sagten würde, warum sie das alles was angehen könnte.
Linda hat dann deutlich gemacht, was Religion für sie bedeutet. Es sei wie ein dreibeiniger Stuhl, wie ein Melkschemel. Dann höre aber die Analogie schon auf. Der Schemel hätte nämlich drei verschieden lange Beine.
Das längste Bein ist die tägliche Praxis. Der Rhythmus des Jahres, der durch Religion bestimmt wird, der Wochen- und Tagesablauf. Das sei das Wichtigste. Religion ist, wenn sie funktioniert, etwas Alltägliches. Mir fielen dazu unsere Konfirmanden-Eltern ein. Die schicken ihre Jugendlichen zu uns (nicht alle, aber viele) mit dem Auftrag, dass wir Christen aus denen machen sollen. (Entsprechende Ansprüche gibt es auch der Schule gegenüber.) Und wir denken: Wir können das Unsere tun, aber wenn in den Familien nichts davon gelebt wird, sind unsere Möglichkeiten sehr begrenzt. (Das passt, fällt mir ein, zu Lindas Theorie, dass seit dem 18. Jahrhundert eine Welle der Professionalisierung eingesetzt hat. Mit dem Ergebnis, dass den Nicht-Fachleuten – die nicht Theologie, Medizin, Pädagogik studiert haben – eingeredet wurde, dass sie inkompetent sind. Dadurch ist dem längsten Bein des Schemels viel von Alltäglichkeit abhandengekommen.)
Das zweite Bein sei auch wichtig, aber kürzer, das sind Rituale. Darin ist die Kirche eigentlich traditionell gut. Aber sie verliert an Boden. In Großbritannien seien mittlerweile 20% aller Beerdigungen nicht-religiös. Stattdessen würden sie von hochkompetenten Leuten gehalten, die in Gesellschaften zusammengeschlossen sind (drei an der Zahl, ich habe mir die Namen nicht gemerkt.) Viele davon seien Frauen, die der anglikanischen Kirche angehören. Das heißt, wenn man sie lassen würde, dann würden sie das ja in der eigenen Kirche machen. Aber dort werden sie zu sehr eingeengt von Vorschriften und Vorurteilen. Das ist bei uns ja in zweierlei Hinsicht anders. Erstens sind bei uns 90% aller Bestattungen nicht-religiös. Und zweitens werden die weltlichen Feiern nur in Ausnahmefällen von kompetenten Menschen veranstaltet (jedenfalls im Osten). Mit dem Ergebnis einer himmelschreienden Hilflosigkeit der Menschen, wenn es um Tod und Sterben geht.
Und schließlich – und das sei das kürzeste Bein – geht es um die Lehre, die Glaubensinhalte, die bewussten Gedanken, die Geschichten. Ironisch berichtet sie: Nach 100 Jahren Niedergang hat die Anglikanische Kirche sich eingestanden, dass etwas nicht stimmt. Sie beauftragt also schnell ein Projekt als Gegenmaßnahme. Es soll ein (natürlich „zeitgemäßer“) Katechismus geschrieben werden. Nach Lindas Theorie wäre das das Letzte, was dran ist.
Die Church of England hat seit einem Jahr einen neuen Erzbischof von Canterbury (der gleichzeitig symbolisches Oberhaupt aller Anglikaner weltweit ist). Linda wurde gefragt, ob sich mit ihm Dinge in der Kirche zum Guten ändern könnten. Sie war skeptisch. Er habe schnell Dinge in die Wege geleitet. Er sei ein zupackender Mensch. Aber sie befürchte, dass dabei doch nur wieder seine Version von Kirche gefördert wird. Ihr Bild von einem Erzbischof wäre, dass er schaut, wo im Land Ressourcen sind, wo kreative Menschen sind, die etwas wollen, die motiviert sind – und die dann zusammen bringt, ihnen Räume und Möglichkeiten der Entfaltung in einer lebendigen Kirche gibt. Klingt gut. Ich denke, das ist die Aufgabe von Pfarrern heute, nicht nur Erzbischöfen.
Ich denke aber auch: Vielleicht muss Kirche erst noch verstehen (und verdauen), dass sie nie Mehrheitskirche war und nie sein wird. Sie hat nur solange alle Bereiche des Lebens erfasst (denke ich), wo sie mit wirklicher politische Macht verbunden war. Und die wünsche ich mir nicht zurück. Und die, die wirklich die Kirche mit Leben gefüllt haben, die waren zu jeder Zeit in der Minderheit. Der Rest hat sich immer angepasst und getan, was erwartet wird. Und das bedeutet heute eben nicht mehr, Sonntag früh auf der Matte zu stehen. Eher wird (gesellschaftlich) erwartet, dass sie Sonntag früh joggen gehen, damit sie ein Leben lang jung und fit bleiben. Oder dass sie perfekte Eltern sind, die ihre Kinder von Tanz- zu Schwimm- zu Klavier-Unterricht hetzen, damit diese „alle Chancen im Leben haben“. Manche schicken die armen gestressten Wesen dann auch noch zu uns, und so empfinden uns dann auch die Kinder und Jugendlichen. Ein Ding mehr, das sie ihren Eltern zuliebe absolvieren müssen. Von Menschen, zumal jungen Menschen, wird viel verlangt; unsere Erwartungen empfinden sie daher of als zusätzlichen Stress. Das kann nicht Sinn der Sache sein. Salz und Licht der Welt zu sein, muss etwas anderes bedeuten.