Ich wüsste ja einen Text, der widerspiegelt, wie ich die Sache empfinde. Ein Text von Ernesto Cardenal, dem nicaraguanischen Priester, Revolutionär, Mystiker, Dichter. Im Januar war er 90 geworden. In Lobeda in den 80er Jahren mit Peter Zimmermann, da haben wir uns viel mit Nicaragua beschäftigt – auch mit Hoffnungen für uns. Dass es möglich sein könnte, eine gerechte Gesellschaft zu schaffen ohne die Diktatur der Dummheit, wie wir sie erlebt haben. Ein Staat, der jemanden wie Cardenal zum Kulturminister macht, das war nach unserem Herzen.
Damals ist mir der Text untergekommen. Nicht in einem Buch, sondern irgendwo auf einem Zettel. Über den Durst der Menschen. Dass in jedem Menschen ein Durst ist, eine Sehnsucht. Es war ein starker Text. Ich habe ihn nie vergessen, aber ich hab ihn nie wieder gefunden.
Aber man kann es ja versuchen. Ich schlage im Katalog der Bibliothek von Queen’s Ernesto Cardenal nach. Drei Bücher von ihm gibt es hier. Zwei sind das „Evangelium von Solentiname“. Cardenal hatte 1966, mitten unter der Diktatur von Somoza, auf einer Insel namens Solentiname eine Gemeinschaft gegründet, wo sie gemeinsam die Bibel neu gelesen haben. Diese Bibelgespräche sind aufgezeichnet worden und in zwei Bänden veröffentlicht. Das dritte Buch hieß „Love“.
Ich geh runter in die Bibliothek und suche es. Schlag das Inhaltsverzeichnis auf. 43 kurze Prosatexte – und der zweite ist überschrieben: „Thirst“, „Durst“. Das war es!
Dieser Durst, den alle Wesen spüren, ist die Liebe Gottes.
Um dieser Liebe willen werden alle Verbrechen begangen, alle Kriege gekämpft, um ihretwillen lieben und hassen Menschen einander. Um dieser Liebe willen erklimmen Menschen die Berge, tauchen in die Tiefen des Ozeans; sie herrschen und intrigieren und bauen und schreiben und singen und weinen und lieben. Jede menschliche Handlung, jede Sünde, ist eine Suche nach Gott. Aber manchmal wird sie gesucht, wo sie nicht gefunden werden kann. Daher Augustinus: „Suche, was du suchst, aber nicht wo du es suchst.“
Die Gier des Diktators nach Macht, Geld und Eigentum ist Liebe zu Gott. Der Liebende, der seinen Weg zu der Haus der Geliebten findet, der Entdecker, der Geschäftsmann, der Agitator, der Künstler und der kontemplative Mönch – alle suchen sie dasselbe. Den Himmel.
Die Natur ist Gottes Schatten, die seine Schönheit und Glanz reflektiert. Der stille blaue See hat den Glanz Gottes. Seine Fingerabdrücke sind auf jedem Elementarteilchen der Materie. Das Bild der Trinität ist in jedem Atom, die Gestalt Gottes, drei in eins. Deshalb ist Gottes Schöpfung so beunruhigend. Und mein Körper wurde auch für die Liebe Gottes gemacht. Jede Zelle in meinem Körper ist ein Loblied an meinen Schöpfer und eine Liebeserklärung.
Wir sind Spiegel Gottes, geschaffen, um ihn widerzuspiegeln. Selbst wenn das Wasser nicht ruhig ist, reflektiert es den Himmel.“
Und mir gefällt die Sicht auf Dinge und Menschen. Das möchte ich gerne noch lernen, bis ich alt werde. Jedes Wesen so ansehen, ohne Urteil, als ein Wesen mit einer Sehnsucht, die für sich genommen nicht schlecht ist. Denn ich glaube nicht, dass Gott urteilt. Jedenfalls nicht so, wie wir Menschen es tun.