Früh hat Rachel wieder zwei Gäste im Seminar gehabt, die von sich erzählt haben. Diesmal zwei Kollegen, Nicola und Sam. Nicola unterrichtet hier feministische Theologie. Eigentlich würde sie an Rachels Stelle dieses Seminar leiten. Aber sie war bis Ende Januar zum Sabbatical in Neuseeland und ist gerade dabei, sich wieder einzuleben. Sie ist etwa so alt wie ich. Eine unauffällig-auffällige Frau. Aschfahles Haar, groß, schlank, wirkt zunächst ein klein bisschen linkisch, dann aber auch wieder ruhig und kompetent. Sie hat eine sehr eigene Art sich zu kleiden – irgendwie „öko-alternativ“ und trotzdem elegant. Nicola erzählt von ihrer Kindheit in einem Dorf im Süden Englands. Landwirtschaft, sechs Kinder. Ein liebevoller, schweigender Vater. „Fürs Reden war immer Mutter zuständig. Nach der Arbeit kam Vater rein und setzte sich in seinen Sessel und wollte was zu essen und seine Ruhe haben. Wenn wir Kinder dann ankamen und mit ihm reden wollten, sagte er immer: Geht zu eurer Mutter.“ Diese ganze schöne Welt, die sie als durchaus glücklich in Erinnerung hatte, brach zusammen, als Nicola an der Uni war. Für alle anderen Beteiligten aus heiterem Himmel hat die Mutter die Familie verlassen. Sie hat sich in die Frau des Ortspfarrers verliebt. Mit ihr lebt sie bis heute zusammen. Nicola lebt selber auch mit einer Frau und theologisch ist sie auf der Suche nach weiblichen Bildern von Christus. „Bilder von Christa“ nennt sie das. Wenn einem alles zusammen bricht, was bisher richtig und heil war, fängt man vielleicht an, auch alles andere radikal zu hinterfragen. Und so was gefällt mir, auch wenn die Ergebnisse nicht zu mir passen.
Sam ist der nette Ire, von dem ich schon öfter erzählt habe, methodistischer Pfarrer und hier zuständig für uns ausländische Studenten. Hans-Dampf-in-allen Gassen. Tausend Pläne, von denen 1 ½ verwirklicht werden. Er hat neulich gescherzt, dass er ein T-Shirt gesehen hat, das zu ihm passen könnte: „Ich bin beschäftigt. Ich mache Pläne.“ (I’m busy making plans.) Er lebt mit Mark zusammen, der in Coventry Pfarrer ist.
Sam hat davon erzählt, wie er immer zwischen allen Stühlen gesessen hat. Er ist 1972 geboren und nicht weit von Belfast groß geworden. „Wo ich aufgewachsen bin, da war immer Gewalt gegenwärtig. Und es gab auf beiden Seiten des Konfliktes klare Bilder davon, wie ein rechter Mann zu sein hat.“ Es war wichtig, zuweilen lebenswichtig, dass man zu erkennen gibt, wo man hingehört. Es gab klare Erkennungszeichen: Wenn man sagt, dass man aus Nordirland ist, die zweigrößte Stadt Londonderry nennt und beim th das h nicht spricht (also „ti eitsch“ sagt), dann ist man Protestant – und hat in manchen Gegenden Belfasts Schwierigkeiten. Wenn man sagt, dass man aus dem Norden Irlands kommt, die zweitgrößte Stadt Derry heißt und wenn das h mitspricht (also ti heitsch) sagt, dann ist man Katholik – und hat in manchen Gegenden Belfasts Schwierigkeiten. „Und das wurde nie ausgesprochen, das wusste man einfach. Das hing in der Luft.“ Als Methodist gehörte Sam in keines der Lager so richtig.
Und in die Männlichkeitsrituale hat er schon gar nicht hineingepasst. Für Sam waren der Film Philadelphia (1993) ein Durchbruch und ein Seminar an der Uni über den Holocaust. Dort hat er gelernt, dass neben den sechs Millionen Juden auch noch fünf Millionen andere Menschen umgebracht worden sind. Darunter schwule Männer. Und: Als die „Befreier“ 1945 kamen, wurden alle KZ-Insassen freigelassen. Die mit dem rosa Dreieck wurden eingesammelt und ins Gefängnis gesteckt. Homosexualität stand auch nach demokratischen Maßstäben damals unter Strafe. Der Paragraf wurde erst 1982 abgeschafft. (In Westdeutschland übrigens am 1. September 1969; in der DDR wurde 1957 festgelegt, dass Sex unter Schwulen zwar „das Sittlichkeitsgefühl unserer Werktätigen“ verletze, aber Vergehen gegen den Paragrafen wegen „Geringfügigkeit“ nicht bestraft würden; abgeschafft wurde das Gesetz erst 1988). Sam: „In den ersten zehn Jahren meines Lebens wäre ich ins Gefängnis gekommen für das, was ich bin.“
Die methodistische Kirche in England, zu der Sam heute gehört, hat 1992 auf ihrer Konferenz beschlossen, dass „der Dienst und das Pfarramt lesbischer Frauen und schwuler Männer in der Kirche anerkannt, bestätigt und begrüßt wird.“ („recognised, affirmed and celebrated”) Im gleichen Dokument wurde das Kirchenvolk aufgerufen, sich auf eine „Pilgerreise des Glaubens zu begeben“ – um gegen Diskriminierung zu kämpfen für die Wertschätzung und Würde jeden Menschen, egal welcher sexuellen Orientierung. Sam sagt, diese Pilgerreise hat nie stattgefunden. Und zwar, weil die Kirche Angst habe, dass ihr alles um die Ohren fliegt, wenn man anfängt darüber zu reden. Er schätzt, dass die Haltung zu Homosexualität in seiner Kirche 50 zu 50 ist. Die Hälfte sagt: alles ganz normal, was habt ihr nur. Die andere Hälfte sagt: das ist gegen Gottes Willen und Ordnung. Sam meint, beide Seiten rechnen damit, dass mit der Zeit, die andere Seite überzeugt wird. „Konservative“ denken, dass die „Liberalen“ einsehen werden, dass sie falsch liegen. Und die „Liberalen“ hoffen, dass mit dem Fortschritt der Menschheit irgendwann die „Konservativen“ überzeugt werden. Sam glaubt das nicht. Deshalb findet er es wichtig, dass man lernt, miteinander zu leben. Dass man sich einigt, sich nicht zu einigen („agree to disagree"), sich aber gegenseitig zugesteht, dass auf beiden Seiten gute Christen stehen, die es auf ihre Art sehr ernst meinen. Das setze aber voraus, dass geredet wird. „Man nimmt mir nicht übel, dass ich schwul bin. Man nimmt mir übel, dass ich es nicht verstecke. Wenn ich schön still bliebe, mein Leben diskret lebte, dann hätte keiner was gegen mich."
Das Gebäude mit dem Turm ist das neue RST - Royal Shakespeare Theatre | Tja, und nachdem wir nachmittags dann noch drei Stunden Paulus erforscht haben, bin ich nach Stratford gefahren, um mir den „zweiten Teil“ der „Verlorenen Liebesmüh“ anzuschauen – „Gefundene Liebesmüh“ („Love’s Labour’s Won“) alias „Viel Lärm um nichts“ („Much ado about Nothing“) – siehe 13. Februar in diesem Tagebuch. |
„Much ado“ ist ein Stück, das kenne ich so gut, da kann ich manche Sachen mitsprechen. Ich bin also nicht mehr gespannt, wie es ausgeht, das weiß ich. Ich bin gespannt, wie sie es inszeniert haben. Ich kenne eine (fantastische) Aufführung in Weimar 1997, eine (steife) in Stratford auch 1997. Natürlich den Film mit Kenneth Branagh und Emma Thompson. Den Mitschnitt einer Theateraufführung mit David Tenannt und Catherine Tate von 2012. Und nun also „Viel Lärm um Nichts“ im englischen Landhaus November 1918. Wieder hat mir die Musik gefallen. Das berühmte „Hey Nonny Nonny“-Lied im Ivor-Novello-Stil. Sehr schön. | Sigh no more, ladies, sigh no more, men were deceivers ever, one foot in sea and one on shore, to one thing constant never: Then sigh not so, but let them go, and be you blithe and bonny, converting all your sounds of woe into Hey nonny, nonny. Sing no more ditties, sing no more, of dumps so dull and heavy; the fraud of men was ever so, since summer first was leafy: Then sigh not so, but let them go, and be you blithe and bonny, converting all your sounds of woe into Hey nonny, nonny. |
Klagt, Mädchen, klagt nicht Ach und Weh, kein Mann bewahrt die Treue, am Ufer halb, halb schon zur See reizt, lockt sie nur das Neue. Weint keine Trän' und lasst sie gehn, seid froh und guter Dinge, dass statt der Klag' und dem Gestöhn' Juchheisassa erklinge! Singt nicht Balladen trüb und bleich, in Trauermelodien: der Männer Trug war immer gleich, seitdem die Schwalben ziehen. Weint keine Trän' und lasst sie gehn, seid froh und guter Dinge, dass statt der Klag' und dem Gestöhn' Juchheisassa erklinge! | Ich hatte recht mit meiner Assoziation von Downton Abbey, Staffel 3. (Das ist eine ITV-Fernsehserie mit Maggie Smith über ein englisches Herrenhaus und seine Familie auf ITV, auch in Deutschland sehr erfolgreich, die im September in die sechste Runde gehen wird.) Die 3. Staffel beginnt 1918. Im Krieg hatte man das Haus in ein Reha-Zentrum für verwundete Offiziere verwandelt; die Töchter des Hauses beteiligen sich an der Pflege. Und so finden wir auch die Bühne vor. Sechs Stahlrohr-Betten in der Bibliothek. Die Frauen in Schwesternuniformen. Soldaten kommen in englischen 1. Weltkrieg-Uniformen aus dem Krieg. Die Hochzeitsszene findet in einer englischen Dorfkirche mit viktorianischen Kirchenbänken statt. Der „Frater“ (eigentlich ist das Stück in der – katholischen – Toskana angesiedelt) wird zum Pfarrer im anglikanischen Ornat. |
Die zentrale Handlung spielt zwischen Benedick und Beatrice und die ist einfach immer wieder hübsch anzusehen. Die beiden liefern sich furiose Wortgefechte, betonen schlagfertig, dass sie sich gegenseitig nicht ausstehen können und dass sie überhaupt niemals sich von einem Ehepartner einfangen lassen würde. Igittigitt und nein und Gott bewahre nicht! Der Prinz und seine Freunde beschließen also, den beiden einen Streich zu spielen. Zuerst führen die Männer – wissend, dass sie von Benedick belauscht werden – ein lautstarkes Gespräch darüber, dass sie gehört haben und ganz sicher sind, dass Beatrice in Benedick verliebt ist. | Michelle Terry und Edward Bennet als Beatrice und Benedick 2015 |
Unfreiwilligen Szenenapplaus gab es, als in einer dramatischen Szene die Bühnentechnik versagte. Dogberry (Wikipedia beschreibt ihn als "selbstzufriedenen Nachtpolizisten mit einem übersteigerten Gefühl der eigenen Wichtigkeit und Anführer einer komisch-stümperhaften Polizeitruppe" - also der Ober-Spaßvogel des Stückes) wird von einem der Bösewichte als Esel beschimpft und bricht schwer getroffen zusammen. Da sollte eigentlich die Bühne mit ihm nach unten fahren – und bleibt stecken. Dogberry muß einen anderen Abgang wählen - Applaus. Und dann müssen sie mächtig geschwitzt haben hinter den Kulissen. Aber sie haben es schnell wieder hingekriegt. (In der Dresdner Semperoper haben wir mal 45 Minuten warten müssen, bis die Vorstellung weitergeht.) Auf die Art haben auch Bühnentechniker auch mal einen Applaus abbekommen.
Auf dem Rückweg (von Stratford nach Birmingham sind es nachts ohne Verkehr 45 Minuten) habe ich noch in einem 24-Stunden-TESCO angehalten. Hatte weder Milch noch O-Saft zum Frühstück. Danach war ich breit. Unentbehrlich für englische Küche: Baked Beans - ein ganzes Regal in allen Varianten. Das sind weiße Bohnen in (labbriger) Tomatensoße. Ich verzichte dankend. |