Der Kapitalismus beginnt 1601. Naja, jedenfalls, wenn man es als Geschichte erzählen will, was Gary tut, und wenn man von England redet. 1601 hat die East India Company vier Schiffe nach Indien geschickt, die erfolgreich zurückkamen und Pfeffer geladen hatten. Pfeffer kannte man damals nicht in Europa. Kapitalismus bringt einen also erst mal dazu, etwas zu wollen, von dem man bisher keine Ahnung hatte, das es das überhaupt gibt. Das Ganze heißt Kapitalismus, weil Kapital eingesetzt wurde. Menschen, die Geld übrig hatten, haben in die Ausstattung der Schiffe und den Aufkaufpreis des Pfeffers investiert, sind ein Risiko damit eingegangen (die Schiffe konnten untergehen), wegen dieses Risikos und der Entfernung und des Neuigkeitswertes konnten sie den Pfeffer für sehr viel Geld verkaufen – und haben einen Profit von 95% gemacht. Nicht schlecht. Diese Sorte Kapitalismus, der „Kaufmanns-Kapitalismus“, ist aber im 17. Jahrhundert noch etwas, das nur wenige betrifft. Die meisten Menschen leben ihr ganz normales Leben (ohne Pfeffer) wie zuvor. Ein paar Wagehalsige investieren und werden reich (oder gehen Pleite, wenn ihre Schiffe untergehen, was vorgekommen ist).
Mitte des 18. Jahrhundert kam die „kapitalistische Produktion“ auf. (Das ist ein Begriff, den Marx tatsächlich geprägt hat; diese Sorte hat er untersucht). Es begann mit Tuchindustrie – Baumwolle und auch Wolle. Die Mechanisierung der Produktion (James Watt lässt grüßen) brachte jetzt 1000% Profit – am Anfang. Der ländliche Raum entvölkerte sich. Die Menschen zogen in die Städte. Teils, weil sie dachten, sie könnten dort ihr Glück machen. Teils, weil sie gezwungen wurden, weil sie die Wucher-Pacht für ihre Hütten und ihr Land nicht zahlen konnten. (In Schottland wurden mit willkürlichen Pachtverträgen ganze Landstriche zwangsentvölkert, weil Platz für Schafe zur Wollproduktion gebraucht wurde.)
Die menschliche Arbeitskraft wurde zu einer Ware – mit weitreichenden Konsequenzen. Ein Arbeiter war gezwungen, seine Arbeitskraft zu verkaufen, denn mehr hatte er nicht. Die Arbeiter waren nicht mehr Besitzer der Produktionsmittel (oje, das Wort, da klingelt‘s bei mir, das haben wir bis zum Erbrechen gepaukt). Was das aber bedeutet: Wo es vorher ein enges lokales Geflecht von Abhängigkeiten und Verträgen (und damit letztlich Beziehungen) gegeben hat, wurde jetzt alles auf einen anonymen Markt getragen. Der Arbeiter vermietet seinen Körper für eine bestimmte Zeit; dann darf er nach Hause gehen. Mit dem was er da produziert, hat er nichts mehr zu tun, davon gehört ihm nichts. Das nennt Marx Entfremdung.
Konsum entsteht. Wer sich nicht selber von der eigenen Erde ernährt, muss alles, alles, alles kaufen. (Naja, abgesehen vielleicht von der Petersilie auf dem Fensterbrett.) Märkte werden abstrakter, spielen sich nicht mehr wirklich auf dem Marktplatz einer Stadt ab. Es gibt einen Arbeitsmarkt, auf dem die Preise ausgehandelt werden. Arbeiter entdecken: Wenn sie sich zusammen tun, können sie den Preis in die Höhe treiben.
Zum ersten Mal entsteht „Freizeit“. Denn wenn die Stunden vorbei sind, kann der Arbeiter tun, was er will. Bei 12 Stunden Arbeit wird er schlafen. Aber er wird sich eine Verkürzung der Arbeitszeit erkämpfen – und kann dann mehr mit seiner Freizeit anfangen. Im Englischen heißt Freizeit „time off“ – frei übersetzt: außerhalb der Zeit (die er verkauft). Das deutsche „Frei-Zeit“ klingt freundlicher, suggeriert aber, das die andere Zeit nicht frei ist. Ziemlich bald fingen welche an zu überlegen, dass man für diese Zeit den Menschen doch etwas verkaufen könnte. Eine Freizeit-Industrie entsteht.
Aber das alles, so umwälzend es für das Lebensgefühl im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert gewesen ist, das alles ist guter alter Kapitalismus. Heute gibt es den „Finanzkapitalismus“. Das ist eine andere Klasse. Heutzutage ist es erlaubt, Profit zu machen, ohne etwas dafür zu tun. Einfach so. Da kommt Geld aus Geld, nicht daraus, dass angemietete Menschen etwas produzieren, was sie selbst oder andere dann verbrauchen.
Das fängt klein an. Man kauft eine Eintrittskarte im Internet. Fürs Konzert, für ein Theaterstück in Stratford. Oft bezahlt man dabei eine „Bearbeitungsgebühr“ (oder „Buchungsgebühr“, „Transaktionsgebühr“, je nachdem). Dabei hat man die Karte doch schon bezahlt! Gary sagt, das ist, als wenn ich in meinen Local Sainsbury’s (oder zu REWE) gehe und mit meinem Warenkorb voll Butter und Milch an die Kasse komme und der Kassierer schlägt mir auf den Preis noch mal £1,50 respektive 2,10 € drauf. „Ich bezahle eine Gebühr dafür, dass ich so freundlich bin, etwas zu kaufen“, sagt Gary. „Und niemand wundert sich. Wir nehmen das einfach so hin. Das ist vollkommen normal geworden.“
Gary hat eine schöne Art zu unterrichten. Mittendrin gibt er einer von uns einen Zettel, da steht ein Gedicht drauf. Sie soll mal vorlesen. Es gäbe nämlich im College eine „Gedicht-Fee“. Jede Woche finde er, Gary, ein Gedicht hat in seinem Büro vor. Dieses Gedicht war über den Sabbath. Den Tag, an dem man – nicht Freizeit hat – sondern, wenn schon nicht aussteigen aus dem Ganzen, so doch wenigstens mal innehalten kann.