Heute früh im Deutschlandfunk schnappe ich auf, Sigmar Gabriel, Wirtschaftsminister, habe gesagt, dass die Welt immer gefährlicher geworden sei und dass man alle Möglichkeiten der Verfassung ausnutzen müsse, um das Leben sicher zu machen. Das heißt also, die Bürgerrechte sollen immer weiter gedehnt werden wie ein Gummiband. Zum Glück haben wir ein integer arbeitendes Verfassungsgericht, das hoffentlich einschreitet, wenn sie es zu bunt treiben. Aber was setzt der Mensch für Dinger in die Welt? Und Nachrichtenagenturen verbreiten es. Ich hab’s heute Abend nachgelesen im Nachrichtenticker: "Wir erleben doch gerade, dass die Welt ziemlich gefährlich geworden ist“, hat er gesagt. Das muss er mir erklären. Das Leben in Syrien ist im Moment ziemlich gefährlich. Deshalb müssen wir unbedingt den Flüchtlingen helfen. Aber darauf wollte er nicht hinaus. Ich „erlebe“ jedenfalls nicht, dass mein Leben gefährlich geworden ist. Ich lebe sogar ein verdammt sicheres Leben. Mir fallen keine Bomben auf den Kopf. Mir droht keine Regierung mit Verhaftung und Folter. Ich kann mich selbst in einer Stadt wie Birmingham oder Berlin Tag und Nacht sicher bewegen – ich sollte lediglich auf Taschendiebe achtgeben. Ich brauche die meisten Krankheiten nicht zu fürchten, weil die Medizin Unglaubliches vollbringt und ich gut versichert bin. Deutsche Autobahnen sind gefährlich. Aber das meint Herr Gabriel auch nicht. Es ist dasselbe, wie 1977, als die westdeutsche Demokratie ein demokratisches Recht nach dem anderen über Bord warf, um die Demokratie gegen die RAF zu verteidigen. Polizei und Geheimdienste sollen ihren Job machen, keine Frage, und uns die Terroristen möglichst rechtzeitig abfangen. Dazu reicht aber die Gesetzeslage schon lange aus. Neulich hat mal eine Frau gesagt, sie würde nachts nicht mehr aus dem Haus gehen. Und es war nicht die Angst zu stürzen, die Sehschwäche im Alter und die zerbrechlichen Osteoporose-Knochen. Er war, „weil doch in der letzten Zeit so viele Morde passieren.“ In Eisenberg!
St Augustin von Hippo in Edgbaston | Gottesdienst war heute in St. Augustin in Edgebaston, also dem Stadtviertel, in dem ich wohne. Ich hatte gegoogelt und mir eine Kirche ausgesucht, die sich selbst als „anglo-katholisch“ bezeichnet. Das geht zurück auf eine Bewegung im dem 19. Jahrhundert, lese ich, die die anglikanische Kirche wieder zurück zum „richtigen“ katholischen Glauben führen will (der in der römisch-katholischen Kirche pervertiert worden sei). Die englische Reformation hat ja so nicht wirklich stattgefunden. Damals ging es nur darum, dass man den Papst nicht mehr als Oberhaupt anerkennt. (Weil Heinrich VIII. seine Ehe annullieren wollte. Da hat ihn die deutsche Reformation auf die Idee gebracht, dass man auch sein eigener Papst sein könnte.) Was das für Liturgie und Theologie bedeutet, ob sich da überhaupt etwas ändern soll, ist seither nicht wirklich geklärt – da gibt es offenbar nach wie vor die ganze Bandbreite. |
Anglo-katholisch also. Eine schöne Kirche. 19. Jahrhundert, neogotisch, romanisch anmutende Mosaiken im Chorraum. Ich meine, ich bin ja naiv. Ich komme rein und gucke. Was ich erlebt habe, ist ein anglikanisch-katholischer Verschnitt mit lutherischen Einsprengseln. (Bitte: Verschnitt ist nichts Schlimmes. Der berühmteste Verschnitt heißt Johnny Walker.) Das erste, was auffällt, ist Weihrauch-Geruch, der in der Luft hängt. Das ist für anglikanische Kirchen aber nicht so absonderlich. Nicht viele Menschen. Wenn wir Chorkonzerte hatten, haben wir immer gesagt: In dem Moment, wo es mehr Zuhörer als Sänger sind, hört es auf peinlich zu sein. Zu Beginn des Gottesdienstes war das Verhältnis von Mitwirkenden (inclusive Chor) und Gemeinde noch ziemlich auf der Kippe. Das änderte sich aber – nach und nach trudelte die Gemeinde ein. Die letzten kamen 20 Minuten nach (!) Beginn. Da war dann die Gemeinde leicht in der Überzahl.
Beim Einzug merke ich den ersten äußeren Unterschied zum sonstigen anglikanischen Gottesdienst. Die drei Haupt-Mitwirkenden (darunter eine Frau) hatten nicht nur Priestergewänder, sondern auch Hüte auf – mit Bommeln, so wie Don Camillo. Nach einem mir nicht nachvollziehbaren Muster wurden die Hüte während des Gottesdienstes manchmal abgesetzt und dann wieder aufgesetzt. Es gab eine junge Frau im Messgewand, die sozusagen als Garderobiere fungierte und immer auf die Hüte achtete, wenn sie gerade nicht auf den Köpfen saßen.
Die Lesung des Evangeliums wurde auch wieder schön zelebriert (mit sehr viel Weihrauch) – aber nicht mitten in der Gemeinde, sondern an den Stufen des Chorraumes. Und das Evangelium wurde gesungen. Die Möglichkeit, die gibt es bei uns ja auch; meistens machen wir es nicht (außer in der Osternacht). Die Melodie war mir jedenfalls sehr vertraut – gute alte Gregorianik.
Es gab eine Choreografie und ein Zeremoniell. Aber nicht so steif, wie ich es in Kathedralen hier schon erlebt habe. Die Frau mit Priesterhut hatte unterm Talar Turnschuhe. Das sollte ich mir in Eisenberg mal erlauben! Und manchmal hatte es den Anschein, als müssten sie sich untereinander erst mal absprechen, wie es weitergeht. An einer Stelle ist einer der Priester durch die Kirche gerannt, damit er zur rechten Zeit an seinem Platz ist. Hmm. Und dann plötzlich ganz vertraut der Eingang zum Abendmahl. „…die Herzen in die Höhe… wir erheben sie zum Herren…“ Natürlich auf Englisch, aber in exakt der Melodie wie zu Hause in Eisenberg. Da verstehe ich, warum mein schottischer Kollege, als er 1984 zum ersten Mal in einem unserer Gottesdienste war, gesagt hat: „Ihr seid ja katholisch!“ Das ist katholisch.
Der Prediger war ein seltsamer Mensch. Mindestens zwei Meter hoch und ansonsten Ausmaße eines Obelix. Ungelogen! Ich habe nicht viel verstanden von der Predigt. Erstens war die Lautsprecheranlage miserabel, außerdem hat er genuschelt und auch nicht immer ins Mikrophon gesprochen. Er begann seine Predigt mit „ranting“, wie er selber eingestanden hat, mit Geschimpfe. Auf die schlechte Welt, die sonntags nicht in die Kirche geht und in Pakistan Christen ermordet. Wirklich! Dann kam, soweit ich verstanden habe seine Botschaft in Endlosschleife: „Gott liebt euch. Egal was kommt, er liebt euch.“ Ich war mir nicht sicher. Mein Eindruck war, dass er selber das in seinem tiefsten Herzen nicht glaubt. Aber ich kann mich irren. Es könnte auch sein, dass er einfach nur ein skurriles Original ist – aber eben ein Original.
In den Abkündigungen wurde noch das Abendgebet angekündigt. Da gibt es jetzt in der Passionszeit eine Predigt-Reihe: „Bösewichter der Bibel“. Da ist vielleicht ein James-Bond-Fan am Wirken, wer weiß. Heute ist in England Muttertag, wie bei uns im Mai. Da werden in den Kirchen "Daffodils", Narzissen verteilt. Ich hab auch welche gekriegt. |
Ach ja, und "de Dampfmaschin". Hier in Birmingham gibt es ein Wissenschafts-Museum. Das ist hauptsächlich für Kinder gemacht. Die können da ganz viel rumstöbern und Experimente und wissenschaftliche Spielereien machen. Der ganze Laden war dann auch voll von Familien und begeisterten Kindern. Im Erdgeschoss aber, deswegen war ich dort, ging es um die wissenschaftlichen Entdeckungen des 18. Und 19. Jahrhunderts, vor allem die in Birmingham. 1765 hat der Großvater von Charles Darwin in Birmingham die "Lunar Society" gegründet, laut Wiki eine „Gesellschaft von naturwissenschaftlich interessierten Menschen in Großbritannien, bestehend aus Dichtern, Theologen, Erfindern, Ärzten, Schriftstellern, Physikern, Chemikern und Industriellen.“ | Ausstellungsstücke über die Lunar-Gesellschaft, deren Mitglieder professionell und als Amateure nach Herzenslust geforscht und erfunden haben. |
Symbolisch dafür steht die Dampfmaschine von James Watt. Er hat sie nicht erfunden. Es gab solche Maschinen schon. 1125 soll es in Reims eine Orgel gegeben haben, die „mit erhitztem Wasser“ betrieben wurde. Leonardo da Vinci hat über Dampfkraft nachgedacht. Aber James Watt hat 1759 solche Maschinen derart perfektioniert, dass sie praxistauglich und breit einsetzbar wurde. (In dem Jahr ist Schiller geboren! Das war eine Zeit, die wir mit Pferdekutschen und Pferdestärken verbinden. Aber da hat es angefangen.) Die Smethwick-Maschine von 1779, gebaut von James Watt und die älteste noch funktionierende Dampfmaschine der Welt. Sie war dazu bestimmt, Wasser zu pumpen in den Kanälen Birminghams. Die Treppen runter geht es zum Heizraum, wo jemand immer Kohlen nachschippen musste. |
Watts Maschinen hatten eine – für damalige Zeit – enorme Leistung. Man kann sich das gar nicht mehr so vorstellen heute, was das für eine Revolution war. Die neue Maschine drang nach und nach in alle möglichen Bereiche vor. In der Landwirtschaft erleichterte sie das Dreschen. Dreschmaschine von 1825 |
Am Ende des Ausstellungs-Saales stand dann eine riesige Dampflok. Das ist gar nicht so lange her, dass die noch im alltäglichen Gebrauch waren. Ich erinnere mich jedenfalls noch an den öligen Kohlegeruch auf den Bahnhöfen. (Die Lok im Museum roch immer noch so, obwohl sie nicht mehr in Betrieb ist.) Und an das schnaufende Geräusch, wenn ich abends im Bett lag und ein Zug sich das Jenaer Mühltal Richtung Weimar hochschob. Mit langen Güterzügen schaffte eine Lok das nicht – dann gab es noch eine Schiebe-Lok hinten dran. |