Als ich vor zwei Wochen die „Goldenen Jungs“ gegenüber der Birmingham Bibliothek entdeckt habe, hab ich nachgelesen, wo sie begraben sind: Im Ortsteil Handsworth in der dortigen Marienkirche. Na, dann gehe ich doch dort mal in den Gottesdienst und schaue mir gleichzeitig die Sehenswürdigkeiten an. Ich bin ein bisschen spät dran, fünf Minuten vor 11 sind recht wenige Leute in der altehrwürdigen Kirche. Ganz wie ich es von Eisenberg gewöhnt bin, kommen kurz vor Schluss doch noch ein paar, aber wir sitzen recht locker verteilt in den Bänken. St Mary's im Stadtteil Handsworth im Nordwesten Birminghams |
Ein Mann kommt noch vor dem Gottesdienst auf mich zu: „Ich bin mir nicht sicher, ob wir uns kennen…“ Ich sage, dass ich zu Besuch bin und er erzählt mir schnell ein bisschen. Vor allem, dass heute nicht der Ortspfarrer dran ist, sondern eine Vertretung. Sie bekommen einen neuen Pfarrer, der fängt aber erst in drei Wochen an. Die Gemeinde ist also derzeit vakant. Das war dann doch eine hilfreiche Information für das, was folgte. |
Die Orgelbank ist heute leer | Der Pfarrer kündigt an, dass sie heute keinen Organisten hätten, wir also „nur mit unseren Stimmen“ singen würden, und es kam das erste Lied. Die Melodie war der Gemeinde nicht vertraut, aber man sang tapfer drauflos. (Gesangbücher haben in Großbritannien keine Noten, nur Text. Ich konnte also auch nicht helfen.) In anglikanischen Gottesdiensten ist es nicht üblich, Strophen auszusuchen; jedes Lied wird von vorn bis hinten gesungen. (Allerdings gibt es hier auch keine Paul-Gerhardt-Klopper von 12-15 Strophen.) |
Der Gottesdienst wird in aller Form abgehandelt. Ein geborener Prediger ist der Vertretungspfarrer nicht. Er sagt nichts Falsches. Aber er liest, was er sagt, in einem Tempo ab, dass man kaum folgen kann. Gegen Ende der Predigt erzählt er eine lustige Geschichte. Es lacht niemand. Denn er liest sie mit einer Ausdruckslosigkeit, als würde er das Telefonbuch rezitieren. Die Pointe verpasse ich, sie rauscht zu schnell vorüber. Und er lässt auch keine Pause, wo man lachen könnte, hätte man die Pointe verstanden. Der arme Kerl. Er macht den Eindruck, als sei er froh, wieder von der Kanzel runter zu dürfen.
Ich denke: So sieht es aus, wenn Kirche stirbt. Aber. Beim Friedensgruß vor dem Abendmahl und vorher schon in der Fürbitte, kommt echte Wärme auf. Die ist nicht tot, die Gemeinde, denke ich. Es sind Menschen da. Nicht viele, aber alle Altersgruppen. Kinder, junge Menschen, Leute wie ich und alte Leute.
Als ich nach dem Gottesdienst nach vorne gehe, um mir das Denkmal für James Watt anzugucken, kommt mir ein Kirchenältester hinterher und gibt mir eine kleine Führung. Er ist sichtlich stolz auf seine Kirche. Sie habe eine 1000jährige Geschichte. Das Grab von Watt ist in einer Seitenkapelle, für deren Erhaltung die Nachkommen Watts bis heute zahlen. (Meine Vermutung: auch für den Rest der Kirche, denn sie ist erstaunlich gut in Schuss.) |
Der Friedhof erzählt von vergangener Größe | Handsworth sei zu Watts Zeiten der Hauptort gewesen. Birmingham sei damals ein Dorf gewesen. Birmingham habe, was es heute sei, Boulton, Watt und Murdoch zu verdanken (auch die anderen beiden „Goldenen Jungs“ sind hier begraben und es gibt Gedenkplatten für sie). Letzteres ist sicher richtig. Das andere ist ein Wunschgedanke, wie ich zu Hause in Wikipedia nachlese. |
1800 hatte Birmingham 80.000 Einwohner und war nach London die zweitgrößte Stadt des Landes. Handsworth hingegen war ein Dorf und entwickelte sich erst durch die Firmengründung von „Boulton & Watt“ zu einer größeren Siedlung. 1850 hatte Handsworth 6.000 Einwohner und gehörte nicht zu Birmingham, sondern in die Grafschaft Staffordshire. 1911 wurde es eingemeindet. | Ein verwittertes viktorianisches Grab |
Krokusse auf dem Friedhof | Dann spricht mich noch ein ehemaliger Kirchenältester an (der mir vom Organisten erzählt). Er stammt von hier, hat aber sein Arbeitsleben in London verbracht. Jetzt ist er im Ruhestand. Er habe überlegt, ob er nicht wieder nach London zurückgeht. Aber er gehöre in diese Kirche. Wegen dieser Gemeinde bleibt er hier, sagt er. Na, da hat der neue Kollege ja vielleicht ein paar Möglichkeiten, etwas zu bewegen, wenn er es richtig anpackt. In keiner Gemeinde bisher sind so viele Menschen freundlich auf mich zu gekommen, weil sie mich als Neue identifiziert haben. |
Mittags verschlechtert sich das Wetter. Es regnet Hunde und Katzen, wie man im Englischen sagt. Also keine Lust, noch große Streifzüge zu unternehmen. Ich fahre zu meinem „Local Sainsbury‘s“; Milch und O-Saft sind aus. Auf dem Weg vom Parkplatz komme ich an dem roten Backsteinbau vorbei, den ich schon oft gesehen habe. Erst jetzt kriege ich mit: Das ist eine ehemalige Schule, offenbar denkmalgeschützt und jetzt umfunktioniert. Unter dem Namen „Zum Schulhof“ beherbergt sie ein paar Restaurants, darunter ein Italiener. Das ist doch eine Idee. Also esse ich dort Mittag. | Ich bin mir nicht sicher, ob ich in der Aula sitze oder ob das mal drei Klassenräume waren. Ich denke, letzteres. |
In Großbritannien kenn man keine Kuchengabeln. Kuchen wird mit Esslöffel serviert. | Wenn man in Großbritannien in einem Restaurant isst und das Essen kommt, fragt der Kellner immer: „Kann ich Ihnen sonst noch was bringen?“ Ich finde die Frage immer befremdlich. Er hat mir doch gerade das Essen gebracht. Da brauche ich doch nicht gleich noch was. Aber das ist offenbar der Standard. Immer wird auch gefragt, ob ich noch Soßen will. Das ist eine Frage, die die meisten Briten mit ja beantworten und das ist ein großer Frevel. Denn was immer die britische Küche für einen Ruf hat: Soßen können sie! Aber da (fast) alles mit Pommes serviert wird, gehören da noch die in kleine Plastiktütchen verpackten ekelhaften Fastfood-Soßen dazu, mit dem das Ganze dann wieder versaut wird. Kellner wundern sich immer, wenn ich dankend ablehne. „Wirklich keine Soßen?“ sagt mindestens der Blick. Und schließlich, wenn man die ersten Happen gegessen hat, kommt immer jemand und fragt, ob alles in Ordnung ist mit dem Essen. Machen die das in Deutschland auch? Höchstens in sehr feinen Restaurants, oder? |
Ein nerviges Nebenprodukt dieser anderen Kultur in Großbritannien ist, dass man überall gefragt wird: „Wie waren wir heute?“ Auf jedem Kassenzettel steht die Aufforderung, zu Hause ins Internet zu gehen und eine Bewertung abzugeben. Selbst auf der Postquittung steht das: „Wie waren wir heute?“ Das nervt ein wenig. Aber das immer drohende Feedback spornt Angestellte offenbar an, professionell zu arbeiten. (Und das fällt einer geborenen DDR-Bürgerin natürlich besonders auf, die noch das harsche „Hamwernichkriegnwerauchnichwieder“ kennt.)