Ein anglikanischer Sonntag ist anders als wir das gewohnt sind. Ein lutherischer Pfarrer hat auch vor fünfzig Jahren die Gemeinde nach dem sonntäglichen Gottesdienst ihrem Privatleben überlassen. Hier ist es ziemlich selbstverständlich, dass (eigentlich) mindestens drei Gottesdienste am Sonntag stattfinden – ein früher, ein Haupt-Gottesdienst und einer am Abend. Und es ist eigentlich auch erwartet, dass man sonntags durchaus nicht nur einmal in die Kirche geht. Aber das ist natürlich Anno Tobak. Die Kathedralen mit ihrem vielen Personal, die ziehen die Gottesdienste noch durch (Worcester zum Beispiel mit täglich – sieben Tage die Woche – drei bis vier Gottesdiensten). Aber in Otto-Normalbürger-Kirchen sind diese Zeiten natürlich längst vorbei. Immerhin hat All Saints ein wochentägliches Morgengebet, Dienstag bis Freitag ein Mittagsgebet und Donnerstagvormittag Abendmahls-Gottesdienst. Und es ist überhaupt nicht abwegig, dass der wöchentliche Soul Food-Gottesdienst Sonntagabend stattfindet. Es liegt in der Tradition, dass Sonntagabend Gottesdienst ist.
Heute hieß das: Um 8.00 Uhr waren sechs Personen anwesend. Der Ortspfarrer, die Pastorin aus Deutschland, die Kirchenälteste, die im Abendmahl assistiert und drei Gemeindeglieder, von denen einer auch die Lesungen übernommen hat. Aber die drei, die da waren, für die war es wichtig und gut so.
Ganz anders in Norton. Das ist wie zu Hause auf einem der besser laufenden Dörfer. Fünfzehn Leute ungefähr. Eine freundliche Gemeinde, die vor dem Gottesdienst lacht und Späße macht. Auch wie zu Hause: Läuter bleiben nicht unbedingt zum Gottesdienst, sondern werden nach Läuten freundlich verabschiedet. Wobei man hier allerdings mehr als einen Läuter braucht, weil die Glocken einzeln angeschlagen werden und mit ihnen ganze Melodien gespielt werden. Das ist etwas sehr Englisches. In Norton haben fünf Glocken geläutet.
Zu predigen war nicht wie bei uns zwei Wochen nach Ostern der Gute Hirte und/oder Psalm 23, sondern eine Ostergeschichte nach Lukas die bei uns Ostermontag dran wäre. Irgendwie gehen wir in unserer Tradition schneller von Ostern wieder weg zu anderen Themen. Hier hatten wir heute das, was abgekürzt „Ostern 3“ heißt. Das war für mich ein wenig ungewohnt, aber auch wieder schön, sich so ausgiebig mit Ostern zu befassen. Wir bemühen uns ja immer, den Leuten verständlich zu machen, dass Weihnachten am 24. Dezember erst anfängt und die Osterwoche nicht etwa die Woche vor, sondern die Woche nach Ostern ist…
In Norton habe ich einen DDR-Witz erzählt: Hat ein Polizist einen Ausreiseantrag gestellt. Wird zu seinem Vorgesetzten gerufen, der macht ihn zu Schnecke. Was ihm einfiele, ob er ihm das mal erklären könne. „Tja“, sagt der Polizist. „Ich hab zwei Gründe. Der erste ist: Wenn sich eines Tages in diesem Land mal was ändert, dann will ich nicht auf der falschen Seite stehen. Womöglich knüpfen sie mich ja als Volkspolizisten an der nächsten Laterne auf.“ Das macht den Vorgesetzten nur noch wütender. Er sei nicht nur ein Verräter, sondern auch noch ein Feigling. Und überhaupt, was erzählt er da – und jetzt brüllt er: „In diesem Land wird sich niemals etwas ändern.“ „Ja“, sagt der Polizist, „das ist mein zweiter Grund.“
Und schließlich: Ein bisschen Chaos… Das bezieht sich in keiner Weise auf die Gottesdienste. Sondern auf die Filmpremiere des Tages. „A Little Chaos“. Kate Winslet und Alan Rickman. Sowie zum zweiten Mal dieses Frühjahr Matthias Schoenaerts (Suite Française – 14. März). Dazu wunderbar besetzte Nebenrollen – Stanley Tucci (Der Teufel trägt Prada), Jennifer Ehle (Stolz und Vorurteil 1995), Helen McCrory (Narcissa Malfoy aus Harry Potter) und andere.
Irgendwie ist der Film mehr ein Gemälde als ein Film. Er hat er wunderschöne Bilder zu zauberhafter Musik, aber ich hab nicht so richtig eine Handlung verfolgen können. Natürlich gibt es eine. Eine Gärtnerin (heute würde man sie eher Gartenarchitektin oder Landschaftsgestalterin nennen) soll 1682 in Versailles einen Teil des Gartens, der gerade entsteht, projektieren und bauen lassen. Und genau das geschieht. Sie baut diesen Teil, eine Wasserkaskade in Form eines Amphitheaters. Und lange Zeit habe ich mich gefragt, was der Film eigentlich soll. Dass ich mich nicht gelangweilt habe, lag an der unglaublichen Ausstrahlung von Kate Winslet als Gärtnerin. Die wird immer besser, je älter sie wird. Und an Alan Rickman, der einen herrlich schrulligen Louis XIV., Sonnenkönig von Frankreich, abgibt.
Erst das allerletzte Bild hat mir dann den Rest des Films erschlossen. Da wird die fertige Kaskade gezeigt, wie sie vom König besichtigt wird. Und dann zoomt die Kamera heraus und zeigt zum Schluss den ganzen Park Versailles in der Vogelperspektive. Und da ist dieser eine Teil ein kleines Stück Chaos, das einzige Stück Leben inmitten des gezirkelten französischen Parkes. Die Kaskade liegt in einem Stück wilden Wald wie eine lebendige Oase in einer geometrisch gezähmten Fläche. Und tatsächlich, der ganze Film dreht sich um diesen Fleck Lebendigkeit, den die Gärtnerin an den Hof bringt. Sie selber ist diese Lebendigkeit. Ein Höfling erzählt, wie es ist: „Wir sind etwa 2000 Leute. Jeder kennt jeden. Jeder hat mit jedem schon mal zu tun gehabt – Sie wissen schon, Feindschaften, Liebschaften… Und niemand darf den Hof verlassen ohne Genehmigung des Königs.“ Sie leben da ihr gekünsteltes Leben, ohne es selber zu merken, bis diese seltsame Gärtnerin reinplatzt. Der Obergärtner (Mathias Schoenaerts), der sie anheuert, wird durch seinen Sekretär auf sie aufmerksam gemacht: „Manchmal weiß man erst, wenn man es bekommt, was einem gefehlt hat.“ Eine Hofdame sagt vollkommen perplex und in tiefster Bewunderung über die Gärtnerin: „Die ist ja durch und durch echt!“ Ich muss mir den Film noch mal von vorne angucken.