Heutzutage ist „The Reverend and Valiant Master of the Temple“ zunächst einmal Pfarrer der anglikanischen Kirche (die ihn für sein Pfarramt, denke ich, auch anständig bezahlt) und erster Pfarrer in der Tempelkirche in London. Hat es geklingelt? Aber ja, Templer, Tempelkirche… Das ist die Kirche, in der der „Da Vinci Code“ spielt und auch gedreht wurde. Da ich kein Dan-Brown-Fan bin, war ich noch nie dort, obwohl sie nun wirklich mitten in London steht. Ihr Herzstück ist ein runder Bau, der der Grabeskirche in Jerusalem nachempfunden ist. Das Verständnis geht so: Wer in der Kirche steht, steht in Jerusalem. (Na, so etwas haben wir in Ostdeutschland auch, nicht ganz so alt: Das Heilige Grab in Görlitz. Das wurde um 1485 von einem Jerusalem-Pilger genauso gebaut, wie er es dort gesehen hat. Also kann man auch an der polnischen Grenze mitten in Jerusalem sein. Ich hab’s probiert und es ist wirklich beeindruckend. Solche Dinge hängen wirklich nicht am geografischen Ort, glaube ich.)
Abschweifung zu Ende. Die Tempel-Kirche in London war 1215, als die Magna Charta entstand, noch in vollem Templer-Betrieb und zuweilen Zufluchtsort für König Johann, wenn der wieder mal in Schwierigkeiten war. Und so spielt die Kirche auch keine unwichtige Rolle bei der Entstehung der Magna Charta. Und der heutige Tempelmeister, Robin, ist bestens geeignet, über das alte Dokument zu erzählen, zumal er ein gebildeter Mensch und Theologieprofessor am King’s College in London ist.
Am Anfang fragt er, wer das Dokument eigentlich schon einmal tatsächlich von Anfang bis Ende gelesen hätte. Andrew meldet sich und noch jemand. Ein anderer sagt, er hätte wenigsten mal bis zur Hälfte gelesen. Das findet Robin durchaus verständlich. „Das ist so langweilig zu lesen, dass man ab dem 5. Artikel sterben möchte.“ Es ginge um die Fischereirechte in der Themse, Rechte für Kaninchenfang und ähnliche banale Dinge. Warum darum so ein Aufhebens machen? Wenn man sich aber durch den Wust durchgekämpft hat, dann kämen plötzlich die Artikel 39 und 40. Und da steht drin: „Kein freier Mann darf eingesperrt, enteignet, für vogelfrei erklärt, exiliert oder in anderer Weise entrechtet werden, ohne dass er von Gleichgestellten nach dem Gesetz des Landes dazu verurteilt wurde.“ Das ist tatsächlich ein Grundsatz dessen, was wir heute Rechtsstaat nennen, das wurde wörtlich oder sinngemäß in viele demokratische Verfassungen übernommen, das garantiert – wo es eingehalten wird – das, was wir heute Menschenrechte nennen. In einem Büchlein, das Robin zum Jubiläum geschrieben hat, schreibt er: „Alle unter uns, die wir in Freiheit leben und ohne Angst vor unserer eigenen Regierung, unserer Polizei oder unseren Gerichten, haben guten Grund, den Baronen und Kirchenmännern dankbar zu sein, dass sie ihrem König auf einem sumpfigen Weideland außerhalb London die Stirn geboten haben – vor 800 Jahren!“ (In diesem Sumpfland, Runnymede genannt, wurde das Dokument im Juni 1215 unterzeichnet.)
Und noch aufregender ist der 61. Artikel, der sinngemäß besagt: Die Barone wählen unter sich 25 aus, die darüber urteilen dürfen, ob der König selbst diese Charta einhält. Wenn nicht, haben sie das Recht, ihm seinen Besitz wegzunehmen. Die Macht eines von Gott eingesetzten Königs so zu beschneiden – das war 1215 in der Tat ein starkes Stück. Robin nennt es „mind-blowing“, irre, überwältigend. Dieser Artikel war es wohl vor allem, der den Papst bewogen hat, die Charta zu annullieren – zwei Monate später. Aber einer der Strippenzieher damals, der Erzbischof von Canterbury, Stephen Langton, hatte diese Charta ganz gezielt auf biblischen Grundlagen gebaut. Das Alte Testament hat eine sehr kritische Haltung zum Königtum und setzt klare Regeln für das Verhältnis zwischen Gott, dem König und dem Volk – und in diesem Dreieck ist der König nicht der Oberste! Auch und gerade er ist verpflichtet, streng genommen sogar mehr als alle anderen, weil er die meiste Verantwortung hat. Aber das kümmerte damals das Oberhaupt einer Kirche nicht, die selber bis zum Gehnichtmehr korrumpiert war. Die Annullierung geschah mit dem Argument, der König hätte „seine Würde und die des Landes preisgegeben“.
Es hat gedauert, bis die Charta wirklich und wahrhaftig inkraft war. Bis ins 17. Jahrhundert, als man den König erst abgeschafft, dann aber doch wieder eingesetzt hat – nun aber mit klaren Machtbeschränkungen durch ein Parlament.
Ich finde es schon beeindruckend, diese lange Tradition. 800 Jahre Kontinuität. Da haben wir in Deutschland eine sehr andere Geschichte. (Dafür sind wir aber gut in Pluralismus und Vielfältigkeit. Damit haben wir 1000 Jahre Übung. Einen Friedrich Schiller hätte es ohne die deutschen Kleinstaaten vielleicht nicht gegeben. Da wäre er entweder im verhassten Militärdienst für seinen Landesherrn stecken geblieben oder hätte außer Landes fliehen müssen. Letzteres hat er ja auch gemacht – nur war das Nachbarland praktisch zu Fuß erreichbar. Er hatte eine Menge Optionen im eigenen Land, das heißt im eigenen Sprachraum, und konnte sich einfach einen anderen Landesherrn suchen.)
Zweite Abschweifung zu Ende. Irgendwann stoppte Robin in seinem Begeisterungsschwung. Sicher gäbe es auch heute noch Bedarf, hier und da dafür zu sorgen, dass wirklich jeder gleich ist vor dem Gesetz, dass wirklich Recht geschieht. Aber im Wesentlichen sei die Magna Charta interessant als Geschichte, als Zeugnis, wo man herkommt in diesem Land. Er befürchtet, dass man sich im Jubiläumsjahr zu sehr selber auf die Schulter klopft und nicht ehrlich auf das sieht, was heute dran ist. Darauf zum Beispiel, dass die Kirche viel zu sehr in Selbstgefälligkeit verharrt und nicht gemerkt hat, in welcher Bedeutungslosigkeit sie angelangt ist.
England ist ein Land, das genauso entkirchlicht ist wie der Osten Deutschlands. Der Unterschied ist vielleicht: Wir wissen das – und schieben es auf die Kommunisten, was aber wahrscheinlich nur die halbe Wahrheit ist. Hier sitzen Bischöfe im Parlament, ist der Erzbischof von Canterbury regelmäßig mit der Königin auf einem Foto. Da kann man den Blick dafür verlieren, wo man wirklich steht. Robin sagt es drastisch: „Damit wir keine Mehrwertsteuer bezahlen müssen, mussten wir unsere Kirche zum Museum erklären. Und das sind wir auch. Ich bin ein Museumswärter!“ Alten Zeiten trauert er dennoch nicht nach. „Einer Kirche, die wieder an die Macht kommt, der würde ich nicht über den Weg trauen.“ Kann es sein, dass wir als DDR-Kirche da schon mal vorgedacht haben, als wir versucht haben zu beschreiben, wie eine machtlose Kirche aussehen könnte? Da hat man ja 1989 gedacht, das braucht man jetzt nicht mehr. Vielleicht sollte man da mal wieder was aus der Kiste holen.