Als ich im Januar ins Theater gefahren bin, war schon alles dunkel. Jetzt ist es nicht nur abends um sieben noch hell. Der Frühling ist explodiert - nicht nur am Avon in Stratford. | Heute habe ich eine gewaltige Bildungslücke geschlossen. Ich hab zum ersten Mal „Tod eines Handlungsreisenden“ gesehen – und zwar in einer großartigen Inszenierung der Royal Shakespeare Company (Regie: Gregory Doran, von dem ich schon einiges kenne; der Mann ist genial.) Den Titel „Death of a Salesman“ kennt man natürlich, aber jetzt kenne ich auch das Stück. Das hieß also, dass ich heute Abend in Stratford-upon-Avon eine der wenigen gewesen bin, die gespannt waren, wie das Stück ausgeht (zumindest in meiner Generation; es war auch viel Jugend da, denen ging es sicher auch so). |
Es ist ein Stück über einen Mann, Willy Loman, der Handlungsreisende, der der sprichwörtlichen Mohrrübe hinterherrennt. Also der Mohrrübe, die dem Esel vorangebunden wird und die er nie erreicht. Sein Sohn sagt an einer Stelle: „Solange Papa hofft, solange geht es ihm gut.“ Aber alle sehen schon – und auch er selber, dass alles Seifenblasen sind. Er ist ein Vertreter. Was er verkauft, ich weiß gar nicht, ob es gesagt wird. Aber es ist auch unwichtig. Sein Traum: 84 Jahre alt sein und immer noch verkaufen. Dann aber im Plüschsessel in Pantoffeln. Einfach nur den Telefonhörer abnehmen, jemanden anrufen – und dort kennen sie hin und sie mögen ihn. Und vor allem: kaufen von ihm. Und wenn er dann gestorben ist, dann kommen sie von überall her zu seinem Begräbnis. Danach jagt er in seinem Leben: „Sei beliebt und dir wird nicht mangeln.“ („Be liked and you shall not want.”)
Die Realität ist vollkommen anders. Er ist erst 63. Aber er reist immer noch 700 Meilen mit dem Auto. Und er verkauft immer weniger. Richtig erfolgreich war er nie. Jetzt borgt er sich beim Nachbarn Geld, damit er seiner Frau was nach Hause bringen kann. Sein Chef ist dabei, ihn zu feuern. Er steht vor dem Nichts und versucht mit letzter Kraft, die Fassade aufrecht zu erhalten. Und wenn schon nicht er, dann doch wenigstens seine Söhne… Aber der ältere arbeitet lieber mit den Händen im Freien – nur traut er sich das nicht zuzugeben, weil das den Vater enttäuscht. Und der jüngere ist ein unzuverlässiger Weiberheld und Hans-Dampf-in-allen-Gassen…
Es ist ein Stück über einen Mann, der mit 63 sein Leben an sich vorüberzeihen sieht, all die Wegbiegungen, all die Entscheidungen. All die Hoffnungen und Träume, die sich nicht erfüllt haben. Das geschieht – nicht in Rückblenden, eher in Überblendungen. Denn die Erinnerungen – für ihn sind sie genauso gegenwärtig wie die tatsächliche Gegenwart. Das ganze Stück ist ein einziges Gewebe von ineinander verschränkten Zeitebenen.
Es ist ein Stück über die Würde eines Mittelmäßigen (Salieri aus dem Amadeus-Film lässt grüßen). „Attention must be paid.“ „Es muss Aufmerksamkeit gezollt werden.“ (Damit spielte ja dann auch das Musical Assassins – siehe 9. Januar). Den Satz sagt die Frau des Handlungsreisenden, als sie ihren Mann gegen ihre erwachsenen Söhne verteidigt.
Diese Frau wurde gespielt von Harriet Walter (was ich erst im Programmheft erfahren habe). Die habe ich zum Esten Mal in einer BBC-Fernsehserie aus den 80ern als Harriet Vane gesehen (zusammen mit Edward Petherbridge als Lord Peter Wimsey). Die stand also da unten auf der Bühne und sie war großartig, wie sie diese Frau spielt: eine abgearbeitete und doch immer noch starke Frau, die sich abrackert, ihre Familie zusammen und ihren Mann aufrecht zu halten. Sie kämpft genauso um ihre eigene Würde wie um die ihres Mannes.
Genial waren die Übergänge von einer Szene in die andere, von einer Zeitebene in die andere, wenn Willy sich an sein Leben erinnert. Das wurde vor allem über die Beleuchtung geregelt. Ein anderes Licht, eine andere Atmosphäre, eine andere Zeit, Klasse! Das Bühnenbild. Willy hat seiner Familie das Häuschen in Brooklyn gekauft, als es noch in der Natur gestanden hat. Jetzt wird es von New York erdrückt, wie sein ganzes Leben. |
Das Stück wurde 1949 geschrieben. Aber irgendwie ist es immer noch aktuell. Den ersten Lacher des Abends gab es, als Willy ziemlich zu Beginn des Stücks sagt: „Warum ist es nur so, dass, wenn man sein Haus endlich besitzt, keiner mehr drin wohnt?“ Das Problem kennen Briten. Hier ist es eher unüblich, Wohnraum zu mieten; es muss Besitz sein. Und die Preise steigen und steigen. Junge Leute können sich das eigentlich nicht mehr leisten. Und wenn, dann ist es tatsächlich so, dass einem das Haus gehört, wenn die Kinder längst fort sind und vielleicht schon einer auf dem Friedhof liegt…