Über diese Dinge hat heute Abend Andy in Evesham geredet. Er arbeitet für eine Nichtregierungs-Organisation, die sich um politische Bildung für Jugendliche kümmert. Sein Vortrag in der Reihe über die Magna Charta hieß: „Vom Untertan zum Bürger.“ Wann ist eine Demokratie eine Demokratie? Andy fragt in die Runde, wann nach Meinung der Zuhörer Großbritannien eine wirkliche Demokratie geworden sei. Einer ruft spontan in die Runde. „Bis heute nicht.“ Das stimmt und stimmt nicht. Demokratie ist immer Anspruch. Aber natürlich ist Großbritannien schon viel länger demokratisch als alle anderen Länder in Europa der Neuzeit. Hier ist das eine lange Geschichte, so dass man gar kein richtiges Datum benennen kann. (In Deutschland gibt es da deutlichere Daten. Eine gescheiterte Revolution 1848. Ein Kaiserreich mit – zuweilen schwachem – Parlament 1871. Eine Republik ohne Kaiser 1918 bis 1933. Und dann 1949 West und 1990 Ost.) in Großbritannien haben die Barone 1215 dem König Johann zum ersten Mal Rechte abgerungen. Seither gibt es viele Daten und Veränderungen, bis es zum heutigen Status kam.
Wann ist eine Demokratie eine Demokratie? Wenn Menschen zum Leben haben, was sie zum Leben brauchen. Wenn die Bürger ihre Verantwortung wahrnehmen (zum Beispiel Steuern zahlen). Wenn der Staat ihnen aber auch Verantwortung zugesteht. Wenn der Staat die Rechte der Bürger schützt. Ein Geflecht von Rechten und Pflichten und Bedürfnissen und Versorgung. Keine leichte Sache. Demokratie scheint kompliziert zu sein. Andy hat vom Königreich Brunei gesprochen. Da regiert ein König und dem gehört alles. Und der sorgt fürsorglich für seine Untertanen. Baut ihnen Straßen und Schulen. Hält die Straßen sauber. Und die Menschen sind glücklich und ihrem König dankbar, dass er so schön für sie sorgt. Uns geht es auch ziemlich gut, aber wir sind nicht dankbar. Wem sollten wir dankbar sein?
Das British Railsways Logo (bis 1968) auf der Lokomotive im Museum. Margaret Thatcher hat ab 1994 alles in 100 kleine Betriebe aufgeteilt, verkauft und privatisiert. Das ist dem Eisenbahnbetrieb nicht unbedingt gut bekommen. | Nach dem Krieg haben die Menschen in Großbritannien gemeinsam etwas aufgebaut. Einen Sozialstaat. Die NHS (Gesundheitsdienst, der allen kostenlose medizinische Versorgung garantiert), sozialen Wohnungsbau, Verstaatlichung von Betrieben, wie Kohle und Stahl, die British Rail (Eisenbahn) – alles Symbole für den Aufbau eines Sozialstaates nach einem fürchterlichen Krieg. Andy meint: Damals haben die Leute das Gefühl gehabt, sie müssten zusammenstehen. Heute weiß die Jugend über all das nichts mehr. Die haben keine Ahnung, was das alles wert ist, warum man Steuern zahlen soll, warum man Regeln einhalten soll. Es gebe einen kollektiven Gedächtnisverlust. Es würden nur noch 40% der unter 25jährigen wählen gehen. (In Deutschland bei der vorletzten Bundestagswahl 59% der 21-25jährigen.) |
Großbritannien brauche eine plausible Geschichte. Damit ist eine Geschichtserzählung gemeint, die erzählt, wer man ist und wo man herkommt. Die Eröffnung der olympischen Spiele 2012 habe die Geschichte wunderbar erzählt. (Ich finde, Doctor Who hat da auch manchmal einen guten Job gemacht, indem sie den Doktor in britische Geschichte haben reisen lassen. Er hat London am Tag der Thronbesteigung der jetzigen Königin besucht und damit Nachkriegsgeschichte erzählt und einer der speziellen Freunde des Doktors ist Winston Churchill; dem begegnet er gleich mehrere Male.)
Länder haben ihren Nationalfeiertag. England nicht. Nicht wirklich. Viele Länder in der Welt haben als Nationalfeiertag den Tag, an dem sie eine Nation geworden sind. In ziemlich vielen Ländern der Erde sei das der Tag, an dem sie die Briten losgeworden sind. Laut Wikipedia sind das 46 Länder: Afghanistan, Antigua und Barbuda, Bahamas, Bahrein, Barbados, Belize, Botswana, Brunei, Deutschland (Ja! Die deutsche Einheit brachte auch die volle staatliche Souveränität von den Besatzungsmächten, darunter Großbritannien), Dominica, Fidschi, Gambia, Ghana, Grenada, Indien, Jamaika, Jordanien, Kanada, Katar, Kenia, Kiribati, Lesotho, Malawi, Malaysia, Malediven, Malta, Mauritius, Myanmar, Nigeria, Pakistan, Salomonen, Sambia, Sierra Leone, Simbabwe, Sri Lanka, St. Kitts und Nevis (das liegt in der Karibik – nie gehört), St. Vincent und die Grenadinen (ebenfalls Karibik), Sudan, Swasiland, Tonga, Trinidad und Tobago, Tuvalu, Uganda, Vereinigte Arabische Emirate, USA und Zypern. Der Tag, an dem man die Briten losgeworden ist als ein Tag zum Feiern.
Andy erzählt von der Bengalischen Hungersnot 1770. Briten hatten das Land kolonisiert und (durch Mittelsmänner, die East India Company, eigentlich ein Wirtschaftsunternehmen) Steuern eintreiben lassen. Im Durchschnitt alle 10 Jahre zerstört aber ein Wirbelsturm die Ernte in Bengali. In dem Jahr hätte man die Steuern aussetzen müssen. Ein eingeborener Herrscher hätte das so gemacht. Die Briten ließen nicht locker. Gesetz ist Gesetz. Wo käme man da hin. Zehn Millionen Menschen sind in dem Jahr am Hunger gestorben, mehr als im Holocaust.
Das Problem ist, meint Andy, dass sich Großbritannien (und, möchte ich hinzufügen, alle reichen Länder der Erde) heute in der Welt aufführt wie König Johann 1215; willkürlich und auf den eigenen Vorteil aus. Es bräuchte eine weltweite Charta, damit alle genug zum Leben haben und jemand die Rechte aller schützt.
„Was können wir tun?“ fragt eine Frau nach dem Vortrag direkt. „Nagging“, sagt Andy. Nagging wäre das, was Kinder an der Kasse machen, wenn da Süßigkeiten ausliegen. Also sich nicht abfinden. Quengeln, nicht aufgeben. Erzählen, wofür man steht, wo immer man kann.
Mittlerer Mann: Ich schau zu ihm auf, denn er ist Oberklasse; aber ich schaue auf ihn herab,
denn er ist Unterklasse. Ich bin Mittelklasse.
Kleiner Mann: Ich kenne meinen Platz.
Ich schaue zu beiden auf.
Aber ich schaue zu ihm nicht so sehr auf, wie zu ihm,
denn was er ist, ist er von Geburt an.
Großer Mann: Was ich bin, bin ich von Geburt an, aber ich habe kein Geld.
Manchmal schaue ich zu ihm auf.
Mittlerer Mann: Ich schaue immer noch zu ihm auf, denn obwohl ich Geld habe, bin ich vulgär.
Aber ich bin nicht so vulgär wie er, also schaue ich auf ihn immer noch herab.
Kleiner Mann: Ich kenne meinen Platz. Ich schaue zu beiden auf.
Aber obwohl ich arm bin, bin ich ehrlich, fleißig und vertrauenswürdig.
Wenn ich wollte, würde ich auf sie beide herabblicken. Aber ich tue es nicht.
Mittlerer Mann: Wir alle kennen unseren Platz, aber was haben wir davon?
Großer Mann: Ich bekomme ein Gefühl von Überlegenheit über sie.
Mittlerer Mann: Ich bekomme ein Gefühl von Unterlegenheit ihm gegenüber,
aber ein Gefühl von Überlegenheit über ihn.
Kleiner Mann: Ich bekomme Nackenschmerzen.