Neben meinem Auto auf dem Parkdeck parkt eine lautstarke muslimische Großfamilie ein – gefühlte 30 Personen mehrerer Generationen auf drei PKWs verteilt. Beim Losfahren auf der englischen Seite wird dann an einem der Autos schnell noch was rumgeschraubt…
Erfahrene Channel-Crosser sichern sich an Deck als Erstes einen Sitz am Bug, wo man bequem im Sessel sitzend die weißen Klippen beobachten kann, wie sie näher kommend immer größer werden. Dazu muss man aber mindestens zu zweit sein, jedenfalls, wenn man als erstes dringend mal aufs Klo muss und sich dann vielleicht noch einen Kaffee holen will. Ich erwische dennoch einen Sessel am Rande mit Blick nach vorn. Die Fähre ist nicht annähernd voll. Ich sehe keine Leute, die nach England-Urlauber aussehen. Sehr viele scheinen junge Leute aus Osteuropa zu sein, die in England leben und vom Weihnachtsurlaub zurückkommen. Neben mir sitzt ein älterer Russe und liest mühsam mit Hilfe eines OXFORD-Wörterbuches ein englisches Buch. Ich höre kein Deutsch.
Und sie kommen näher, die Cliffs. Und ich empfinde es wieder, dass dies die einzig standesgemäße Art ist, nach England zu fahren. Naja, Flugzeug geht auch noch. Aber Tunnel!? Auf eine Insel!? Hallo! Ich denke daran, was diese Wasser und diese Klippen da schon gesehen haben. Normannische Eroberer im Mittelalter, abreisende und - manchmal - wieder kommende Kreuzfahrer, eine absaufende spanische Armada 1588, Soldaten auf dem Weg hin und zurück in zwei Weltkriegen, Exilierte in beiden Richtungen (Casanova, aus Venedig geflohen, kam über diesen Kanal nach England)… |
Am Ende mache ich doch noch etwas wie deutsche Klänge aus. Eine Studentin redet lautstark Englisch mit deutschem Akzent. Und ich frage mich zum wiederholten Mal, woher es nur kommt, dass französischer Akzent süß klingt, russischer Akzent leidenschaftlich, deutscher Akzent aber einfach nur schrecklich. Und schließlich reden kurz vor Dover zwei LKW-Fahrer auf der Raucherinsel deutsch. Naja, schwäbisch.
Auf dem Festland suche ich im Radio nach meinen BBC-Sendern, um sie einzuspeichern. Da wird mir zum ersten Mal bewusst, dass dieses Mal etwas anders ist. Mir fällt ein, dass ich ruhig meine deutschen Sender überspielen kann. Die werde ich lange nicht brauchen. Also sitzt jetzt auf Position 1 nicht mehr Figaro, sondern BBC 1. Auf 2 nicht mehr DLF, sondern BBC 2 (das ist so eine Art MDR Jump), BBC 3 kriegt die 3 (das ist ein Sender, der am ehesten Figaro ähnelt) und BBC 4 auf … na klar, 4. Das ist ein lustig altmodischer Sender, er bringt nur Text: Politische Diskussionen und Hintergrundberichte, Debatten, Hörspiele, Buchlesungen, Vorträge über Schmetterlinge… Bildung pur. Auf längeren Autofahrten manchmal durchaus interessant.
Das Navi führt mich ins Herz von London – und die Fahrt ist die reinste Sightseeing-Tour: Canary Wharf (früher Hafenviertel, jetzt eine Art Potsdamer Platz mit hell erleuchteten Banken-Wolkenkratzern), Millennium Dome, Tower, Trafalgar Square, Hyde Park – und da liegt dann auch mein Hotel.
Abends fahre ich mit der U-Bahn zu Trafalgar Square. Dort begrüße ich immer „mein“ London, wenn ich hierher komme. Ich esse Fish’n Chips (mein Magen wundert sich sehr, dass er so spät noch so viel Fett kriegt, beschwert sich aber nicht), wandere an Downing Street vorbei runter zu Big Ben mit Blick zum nächtlich blauen London Eye. Ich bin in England. Und ich muss hier nicht nächste Woche wieder weg. Aber es fühlt sich noch nicht so an. | Fish'n Chips in Charing Cross Road |