Cardiff, Millennium Centre. Die Buchstaben heißen: Creu Gwir fel gwydr o ffwrnais awen - In these stones horizons sing. Das sind Zitatanspielungen auf zwei in Wales allseits bekannte Gedichte, ein walisisches und ein englisches: Wales, die Kulturnation. | Im Februar habe ich es ja schon einmal geschrieben – Wales war nie ein Staat, aber eine Nation, die sich sprachlich und vor allem künstlerisch definiert. So gibt es zum Beispiel das Walisische Nationaltheater, das im Millennium Centre Cardiff seinen Sitz hat. Deren Selbstverständnis heißt: „Die walisische Nation ist unsere Bühne. Von den Wäldern zu den Stränden, von Flugzeughallen zu nachindustriellen Städten, Dorfsälen und Nachtclubs. Wir bringen Menschen zusammen: Geschichten erzählende Poeten, Visionäre der sichtbaren Künste und Erfinder von Ideen. Wir arbeiten zusammen mit Künstlern, Zuschauern, Gemeinden und Firmen, um ein Theater zu schaffen in englischer Sprache, verwurzelt in Wales mit internationaler Reichweite. Sie finden uns um die Ecke, hinter den Bergen und in ihrem digitalen Hinterhof.“ |
Extra für diesen Raum hat man das Stück aufbereitet und inszeniert. Wenn man in Deutschland Shakespeare spielt, kann man sich entscheiden, welche Übersetzung man nimmt oder eine neue machen. Dasselbe gilt, wenn man in Großbritannien Brecht spielt, da man ja ohnehin nicht den originalen deutschen Text spielen kann. Für diese Inszenierung wurde neu übersetzt. Mutter Courage wird komplett in walisischem Dialekt gespielt. Ob sich Brecht das mal hat träumen lassen? Aber ich glaube es hätte ihm gefallen. | Bierdeckelwerbung für die walisische Mutter Courage. So sehen typische Berg- und Stahlarbeiterviertel in Methyr Tydfil aus. |
Das Besondere an dieser Inszenierung: Alle Rollen, auch die der Männer, werden von Frauen gespielt. Und was für Frauen! Alle vom Kaliber der Mutter Courage. Frauen, die sich kein X für ein U vormachen lassen. Die, wenn sie fallen, wieder aufstehen, weil doch alles weiter gehen muss. Außer den professionellen Schauspielerinnen haben in kleinen Rollen auch Frauen aus dem Ort mitgespielt. Eine von denen sagt, warum Mutter Courage so gut nach Merthyr Tydfil passt: „Wenn du auf die Geschichte von Merthyr schaust, trotz dem ganzen Müll und dem ganzen Mist, den die Leute durchmachen, die Arbeitslosigkeit, die Sorgen und Nöte und das alles, es ist eine Stadt voller energischer, lebendiger Menschen. Die Menschen von Merthyr sind stark, dickköpfig und sie lassen sich nicht unterkriegen und ich denke die Menschen von Merthyr sind wie Mutter Courage. Sie lassen sich von Missgeschicken und Rückschlägen nicht unterkriegen. Sie stehen wieder auf und weiter geht’s.“ Brecht hat das Stück im 30jährigen Krieg spielen lassen, aber den gerade beginnenden 2. Weltkrieg gemeint. Die Schauspielerinnen hier haben ihre eigenen Leben im Stück wiedererkannt. So wurde auch nicht der typische Leiterwagen der Mutter Courage verwendet, sondern der Wagen der Mutter Courage wurde aus mehreren ineinandergeschobenen Einkaufswagen gebildet. Geniale Idee.
Die Stadtlegende hat zwei Märtyrer (Merthyr heißt in der Tat „Märtyrer“.) Da ist zunächst aus dem Jahr 450 ein Mädchen, Tydfil mit Namen, das von einer piktischen ("heidnischen") Kriegerbande überfallen und vergewaltigt worden ist – so wie Kattrin, die Tochter von Mutter Courage. Der andere Märtyrer ist ein junger Mann, der am 13. August 1831 starb. Er hieß Dic Penderyn und war erst 23 Jahre alt. Er wurde im Zuge von Arbeiter-Aufständen gehängt für etwas, das er nicht getan hatte. So wie der zweite Sohn von Mutter Courage. Merthyr Tydfil war Hochburg von Bergbau und Eisenindustrie. Im 19. Jahrhundert war in diesen Branchen Arbeitsschutz ein Fremdwort. So lag die Stadt vielleicht nicht im Krieg, aber Gewalt kam durch Arbeitsunfälle mit vielen Toten und Schwerverletzten in die Häuser. In der Stadt herrscht ein raues Klima; das Programm schreibt, es sei kein Zufall, dass Boxen der belebteste Sport in der Stadt ist (und übrigens auch im Arbeiterclub betrieben wurde). Merthyr Tydfil sei eine Stadt, die „Überlebenskünstler“ aller Art hervorgebracht hat.
Das alles habe ich erst nach der Vorstellung nachgelesen. Das Programmheft – als Zeitung gestaltet – hat man uns erst am Ausgang ausgeteilt. Offenbar sollten wir erst einmal gucken. Und was ich hinterher gelesen habe, hat man in der Aufführung gespürt. Power pur.
Am Ende des Stückes musste ich an Klaus-Peter Hertzsch denken, zu meiner Studienzeit Professor für Praktische Theologie in Jena. Der hat uns – ich weiß nicht mehr, in welchem Zusammenhang – diese Szene, wie Tochter Kattrin, die Stadt rettet in eindrücklichen Worten geschildert. Kattrin hat keine Sprache mehr. Schon als Kind hat der Krieg ihr das angetan. Am Ende des Stückes aber bekommt sie mit, wie die Soldaten in die Stadt einrücken und alle umbringen wollen. Einen Bauernsohn zwingen sie, ihnen den Schleichweg in die Stadt zu zeigen. Und da steigt die stumme Kattrin aufs Dach und trommelt. Dieses starke Bild ist es, das ich seit meinem Studium kenne – die stumme junge Frau trommelt die Stadt wach. Sie hat Erfolg. Die Glocken der Stadt nehmen das Signal auf und warnen alle. Die Stadt wird gerettet. Kattrin aber wird erschossen.
Was mir nicht bewusst war, die Stadt, um die es geht, war Halle an der Saale. Und das ist schon eigentümlich, wenn man im tiefsten Wales plötzlich eine Geschichte aus Halle erzählt bekommt.
Kerstin in Cardiff | Es kam mir am Anfang ein wenig verrückt vor, 1 ½ Stunden ins Theater zu fahren. Aber es war so was von beeindruckend, das hat sich dreimal gelohnt. Auf der Rückfahrt bin ich „unten rum“ über Cardiff gefahren und hab im Millennium Centre schnell noch was gegessen. Zum ersten Mal habe ich die Spiegelsäule auf dem Platz mit Wasser gesehen. Ich kannte das von Doctor Who Filmen. Ich dachte aber, sie hätten das vielleicht abgeschafft. Das sieht stark aus, wenn an den Spiegeln die ganze Fläche entlang Wasser herunterläuft. Daher ist auch mein Selfie heute etwas verschwommen ausgefallen. |
Abends war ich dann noch im Gottesdienst in All Saints. Schließlich ist ja Himmelfahrt. Wovon man hier gar nichts gemerkt hat. Es ist kein Feiertag. Wir waren neun Menschen im Gottesdienst. Davon sechs Mitwirkende. Gepredigt hat Doug aus Birmingham. Von ihm habe ich ja schon erzählt. Gerade erst habe ich meine alten Emails gelesen und noch mal rekonstruiert, wie alles war. Letztes Jahr im Juni bin ich durch ein paar Umwege auf ihn gestoßen und er war einer meiner ersten Kontakte hier, hat mir den Kontakt nach Queens und nach Evesham vermittelt. Andrew hat uns beide anschließend noch zum Essen eingeladen. Das war ein schöner Abschluss. | Sie sehen ein bisschen grimmig aus - die sind nur müde nach einem langen Tag: Doug, Andrew und Andy (von links) |
Und noch am Rande ein Foto, das von der von der imperialen Vergangenheit (wie Andrew das nennen würde) der Gemeinde in Evesham erzählt. Das sind Kniekissen, liebevoll bestickt und massenweise in der Kirche herumliegend – obwohl sie beinahe keiner mehr benutzt (höchstens als Fußstütze oder für Kinder zum drauf sitzen). Das 50. Thronjubiläum Elisabeths 2002 wird bedacht. Die Glocken des Glockenturms; die Inschrift heißt: „Treble Bell – ich bin die erste Glocke und obwohl ich klein bin, werde ich gehört.“ Und: Royal Wedding. Nein, nicht William und Kate. Die Initialen lauten eindeutig C und D. |