Dass das mal klar ist: Die Engländer sind eigentlich keine Briten, sondern (so gut wie) Franzosen. 1066 ist das entscheidende Datum. Da stirbt der letzte englische König kinderlos; die Thronfolge ist umstritten. Kommt „Wilhelm der Eroberer“, Herzog der Normandie über den Kanal geschippert, schlägt in Hastings die englische Armee und macht sich zum König. Das vereinte, mächtige, kultivierte England bricht an einem einzigen Nachmittag zusammen – und wird fortan von normannischer Kultur überfremdet.
Die eigentlichen Briten sind die Waliser. Ich sitze in einem Pub in Harlech. An einem verregneten Februartag bin ich mittags der einzige Gast. Während ich esse, sitzt die Familie des Inhabers am Tresen zusammen und unterhält sich. Ich verstehe kein Ton. Als wäre ich nicht mehr in Europa, sondern in Patagonien gelandet. Hier wird untereinander walisisch gesprochen, eine gälische Sprache, die an nichts erinnert, was man kennt. Wobei, selber nennen sie sich nicht „Walisisch“ (englisch Welsh). Die einbrechenden Sachsen haben gesagt: das sind die „welsh“, die „Fremden“. Das ist wie mit den Russen, die uns Немецкие/Nemezkie nennen, das heißt: „Die ohne Sprache“. (Währen Slawisch von Слово/Slowo kommt, das heißt „Wort“.) Wales auf Walisisch heißt Cymru (sprich. Kímru), zu Deutsch „Einheimische“. Aber auch diese Selbstbezeichnung ist relativ jung. Eigentlich haben sich die Waliser noch anders genannt, nämlich: Briten (Brython).
Harlech Castle. Hier hat Shakespeare seinen Richard II. aus Irland wieder an Land gehen und entdecken lassen, dass ihn alle Getreuen verlassen und zu Heinrich Bolinbroke übergelaufen sind, der ihm bald seine Krone rauben und sich als Heinrich IV. auf den Thron setzen wird. Hier am Strand lässt Shakespeare seinen Richard die ergreifend-pathetische Rede halten, dass doch auch ein König nur ein Mensch sei: „I live with bread like you, feel want, taste grief, need friends.“ „Wie ihr, leb' ich von Brot, ich fühle Mangel, ich schmecke Kummer und bedarf der Freunde.“ | Früher hätte man die Burg besser erkannt, dann als sie bewohnt war, da war sie innen und außen weiß getüncht. |
In meiner Erinnerung liegt die Burg Harlech Castle direkt am Strand. Das war 1399 zu Richards Zeiten auch so, heute ist das Meer einen Kilometer weg. Ich war hier mit Anne an einem sonnigen Augusttag 1997 gewesen und hatte irgendwie die stattlich aufragende Burg und den weiten Sandstrand zusammen abgespeichert. |
Für abends hatte ich eine Theaterkarte im „Art Centre“ des Universität Aberystwyth (diese Aussprache ist gar nicht so schwer: Aber-ýst-wyth – hinten mit einem schönen, sauberen, „englischen“ th). „The Royal Bed“, „Das königliche Bett“ hieß das Stück. Das ist die englische Übersetzung eines walisischen Stückes namens „Siwan“. Das erzählt eine Begebenheit aus der Geschichte, die bis heute in der walisischen Folklore lebendig ist. Es geht um die Prinzessin Siwan (ausgesprochen klingt das wie englisch „Sue Anne“, ist aber die walisische Form von Johanna), die von 1191 bis 1237 gelebt hat.
Siwan muss eine bemerkenswerte Frau gewesen sein. Als illegitime Tochter von König Johann von England war sie an den nordwalisischen Prinzen Llywelyn verheiratet worden. Das (so habe ich heute gelesen) war eine der Varianten, wie die Engländer Wales zur Loyalität zu bewegen suchten: indem sie ihre nicht ganz so wichtigen Töchter dorthin verheirateten. Siwan war da wohl nicht die einzige. Bei ihrer Heirat war Siwan 10 Jahre alt, ihr Mann 30. Als sie 15 war, hatte sie ihr erstes Kind, später noch vier andere. Darüber hinaus war sie eine begabte Diplomatin und vermittelte ständig zwischen den Streithähnen ihrer Zeit – den walisischen, normannischen und englischen Herren. Immer wieder handelte sie mit ihrem Vater, später mir ihrem Bruder Heinrich III. Frieden aus zwischen Gwynedd (das ist Nordwales, das Reich ihres Mannes) und England.
Das Theaterstück erzählt die Geschichte, die hier jeder kennt. Siwan war nach 25 Jahren Ehe beim Ehebruch mit dem zukünftigen Schwiegervater ihres Sohnes erwischt worden. Ihr Mann Llywelyn rastet aus und bringt den Mann um – er lässt ihn hängen wie den letzten Hühnerdieb. Seine Frau stellt er unter Hausarrest. Seinen Sohn verheiratet er trotzdem mit der Tochter. Das muss eine seltsame Hochzeit gewesen sein. Schließlich lässt er seine Frau nach 12 Monaten wieder frei. Der dritte Akt des Stückes handelt davon, wie die beiden eine pragmatische Koexistenz aushandeln. Denn er braucht sie. Politisch, und – so legt das Stück jedenfalls nahe – auch persönlich. Dieser lange Dialog der beiden, der war sehr stark und beeindruckend.
Das war wirklich ein überraschend erfreulicher Regentag.