Wessen Königreich? Das hat, in der Church of England verhandelt, natürlich noch einmal einen anderen Klang. Das muss man sich als Deutsche immer mal verdeutlichen. Das hier ist ja wahrhaftig nach wie vor ein Königreich. Die Queen ist in Deutschland nicht unbeliebt, wenn man den Hofberichts-Sendungen des ZDF glauben kann. Und selbst ich finde, dass sie durchaus tapfer ihren Job macht. Aber was von Deutschland aus am Ende doch eher wie eine Märchen- und Folklorewelt wahrgenommen wird, ist hier politische Realität. Die Königin ist wie zu Zeiten Heinrich VIII. Oberhaupt dieser Kirche. (Anglikaner fügen schnell hinzu: Aber nur dem Namen nach. In Wirklichkeit sind es schon die Erzbischöfe von Canterbury und York.). Aber nach wie vor haben Bischöfe qua Amt einen Sitz im Oberhaus, sind also ordentliche Parlamentsmitglieder. Das klingt für Deutsche denn doch sehr seltsam. Bei uns haben die Landesherren früher zwar in der Regel die Konfession ihres Landes bestimmt (außer dem Preußenkönig Friedrich II., der bekanntlich gesagt hat: „Jeder soll nach seiner Fasson selig werden.“). Ohne den Schutz von Kurfürst Johann Friedrich wäre Luther wahrscheinlich auf dem Scheiterhaufen gelandet. Aber sich zum Oberhaupt der neuen Kirche zu machen, wäre dem nicht eingefallen.
Der Gemeindeabend ist Teil einer Serie, die Andrew seit einigen Jahren immer in der Passionszeit veranstaltet. In diesem Jahr hat sie zwei Schwerpunkte. Zum einen sind im Mai Parlamentswahlen. Zum ersten Mal könnte die Ukip (das ist AfD auf Britisch) eine bedeutsame Anzahl von Sitzen erobern. Zum anderen wird am 15. Juni der 800. Jahrestag der Unterzeichnung der Magna Charta begangen. Die Magna Charta wird zu Recht als Ausgangspunkt für Demokratie in England, ja in Europa, angesehen.
Unterzeichnet wurde das Dokument 1215 von König Johann, unter erheblichem Druck und nach blutigen Auseinandersetzungen und Aufständen der Adligen des Landes (übrigens derselbe König Johann, der seine Tochter Siwan an den walisischen Prinzen verheiratet hat – von der habe ich am 19. Februar erzählt). Im Wesentlichen steht in der Charta drin, dass auch ein König dem Gesetz untersteht, dass auch ein König nicht machen darf, was er will. Zwar wurde die Charta prompt vom Papst für null und nichtig erklärt, aber irgendwie war sie jetzt in der Welt. Und so wie sie am Anfang den Baronen im Land mehr Macht zugestanden hat, so wurde diese Macht im Laufe der Jahrhunderte auf immer mehr Bevölkerungsgruppen ausgedehnt. Die letzten, die auf diese Art demokratische Mitbestimmungsrechte bekamen, waren die Frauen (1928, als sie endlich genauso wahlberechtigt waren wie Männer).
Das heißt, dass es – im Gegensatz zu Deutschland – in England eine lange demokratische Tradition gibt. Das spiegelt sich auch – nach meiner Beobachtung – in einer ausgeprägten Diskussions-Kultur wider. Es wird härter aber auch fairer diskutiert. Fair in dem Sinne, dass dem anderen immerhin das Recht zugestanden wird, eine andere Meinung zu haben, selbst wenn einem diese Meinung zutiefst verhasst ist. Und es gibt ein viel stärkeres Bewusstsein dafür, dass man selber Verantwortung übernehmen muss, statt immer auf „die da oben“ zu warten. Etwas, was speziell Ostdeutsche, denke ich, oft noch lernen müssen. Wir haben schließlich nach einer missglückten Weimarer Republik erst 25 Jahre Erfahrung mit Demokratie. So ist in Europa zwar Frankreich das Land, das zuerst seinen König dauerhaft abgeschafft hat. Aber in England (später Großbritannien) musste der König mehr und mehr Rechte an ein Parlament abgeben, und zwar lange vor der Französischen Revolution. (Im Übrigen ist mir mal aufgefallen, dass in den beiden Ländern, die sich in der Neuzeit zuerst als Republik etabliert haben – Frankreich und USA – die Präsidenten wie Könige behandelt werden. In den USA gibt es zum Beispiel eine klare „Thronfolge“-Regelung, wenn dem Präsidenten etwas zustößt. Das ist die einzige Funktion, die ein Vizepräsident hat: Er sitzt auf der Ersatzbank. Wenn Angela Merkel im Amt sterben würde, dann würde einfach der Bundestag einen neuen Kanzler wählen.)
Also. 800 Jahre demokratische Tradition und Parlamentswahlen 2015 – diese beiden Ereignisse will Andrew zu einem politischen und theologischen Nachdenken über die Verfassung des Landes nutzen. Den Anfang machte Doug mit seinem Vortrag „Wessen Königreich?“. Das ist derselbe Doug, der mir geholfen hat, nach Queen’s zu gehen und der mir den Kontakt nach Evesham vermittelt hat. Er ist in der Diözese Worcester verantwortlich für – wir würden es Gemeindedienst und Gemeindeaufbau nennen. Hier heißt das Mission Officer (Officer meint tatsächlich Offizier, aber auch Beamter). Aber Doug wirkt weder wie Offizier noch wie Beamter, sehr im Gegenteil.
Er hat über die biblischen Grundlagen für das Verhältnis von Staat und Kirche gesprochen. Und hat gefragt, was das für Christen heute in einer pluralistischen Gesellschaft bedeutet. Unter anderem hat er sich auf Jeremia 29 bezogen: „Suchet der Stadt Bestes.“ Das hat der Prophet denen gesagt, die als Deportierte in einem fremden Land, in Babylon am Euphrat sitzen, an einem Ort, wo sie nicht hinwollten und niemals bleiben. Denen hat er einen Brief geschrieben: „Suchet der Stadt Bestes.“ Oder wörtlich übersetzt: Suchet der Stadt Schalom, der Stadt Frieden. Das fand ich interessant, weil das für uns in der DDR-Kirche ein wichtiger Vers war. Was heißt es, in einem Staat, den man so nicht will, seinen Platz und seine Aufgabe zu finden? Was heißt es, zum Wohl der Menschen zu arbeiten, in diesem Staat, ohne zum Opportunisten zu werden? Doug nun fragt, was das hier bedeutet. In Städten, in denen Menschen unterschiedlichster Herkunft und unterschiedlichsten Glaubens zusammen leben. Er denkt, Gemeinden, Christen haben die Aufgabe, sich dafür einzusetzen, dass es allen miteinander gut geht, dass Frieden untereinander herrscht – und zwar ohne dass vorher alle Christen werden müssen, sondern jeder das Recht hat, anders als die anderen zu sein.
Zum anderen – so Doug – sagt die Bibel, dass, da die Erde Gottes ist, wir dem Himmel verpflichtet sind: „Unser Bürgerrecht aber ist im Himmel.“ (Paulus im Philipperbrief 3,20) Englisch übersetzt heißt das: Unser „Commonwealth“ ist im Himmel. Hmmm. Das kann dann eigentlich nicht bedeuten, dass eine Kirche einen Monarchen an der Spitze haben darf (auch wenn es ein netter Monarch ist). Das hat Doug nicht gesagt. Gesagt hat er, er rechne nicht damit, dass in 50 Jahren noch Bischöfe im Parlament sitzen. Ich persönlich glaube ja, sie werden sich noch ein bisschen Zeit mit der Abschaffung lassen. Wo sie doch gerade erst die erste Bischöfin ordiniert haben. Ich denke, sie warten mindestens, bis die erste Bischöfin ins Parlament eingezogen ist, bevor sie das Ganze abschaffen. Das werden sie sich doch nicht entgehen lassen. Es sitzen nämlich neben den beiden Erzbischöfen nur die 24 dienstältesten Bischöfe im Parlament. Ich habe gehört, dass sie schon eine Quasi-Frauenquote beschlossen haben, weil es sonst ewig dauern könnte, bis die erste Frau zu den 24 Dienstältesten gehört.